Behutsam streicht er mir eine widerspenstige Locke hinters Ohr. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen und in mir zieht sich etwas zusammen.
«Danke das du gekommen bist», sage ich leise.
Langsam rückt er noch ein wenig näher, legt zuerst den einen und dann den anderen Arm behutsam um mich und umarmt mich sanft. Ich lege meinen Kopf an seine Schulter und schmiege mich an ihn.
Sein Duschgel benebelt meine Sinne. Eine Mischung aus Zitrone und einem Hauch von Pfefferminze. Wir bleiben einen Moment in dieser Position, ehe wir uns vorsichtig wieder voneinander lösen.
Ich blicke ihn seine dunklen Augen und sehe pure Verehrung. Kein Schein von Hass oder Verachtung ist vorhanden. Habe ich vielleicht einen grossen Fehler begangen? Plötzlich beginne ich am ganzen Leib zu zittern.
«Es t-u-t mir l-ei-d», stottere ich und meine Augen füllen sich wieder mit Tränen.
Er drückt mich wieder an sich.
«D-u h-a-st g-uten Grund mich zu hassen und doch bist du hier.» Meine Stimme normalisiert sich wieder.
«Ich hasse dich nicht.» Er löst sich von mir und sieht mich eindringlich an.
Mein Herz macht einen Satz.
«Aber», er hält mir einen Finger an den Mund und bringt mich sofort zum Schweigen.
«Rose», die Art wie er meinen Namen ausspricht, löst bei mir eine Gänsehaut aus.
Noch nie reagierte ich so auf Carlos wie jetzt und ich verstehe es selbst nicht ganz. Zitternd sehe ich ihn an, ich bin völlig durch den Wind.
Langsam löst sich eine Träne aus meinem rechten Auge und rollt meine Wange hinab. Carlos wischt sie sachte weg und durch seine Berührung wird mir ganz warm.
Ich muss Carlos jetzt fragen. Ich muss endlich wissen, wer Amélie ist.
Also hole ich tief Luft und frage: «Carlos, wer ist Amélie?»
Er sieht mich nachdenklich an.
«Eigentlich sollte ich dir das nicht erzählen, aber ich habe das Gefühl, dass es einen Zusammenhang mit dem gibt, was vorgefallen ist.»
Er holt tief Luft.
«Also. Vor drei Jahren pflegten wir im Fach Französisch regelmässig Brieffreundschaften mit Schülern in unserem Alter. Ryans Brieffreundin hiess Amélie. Ihre Eltern hatten reichlich Geld und wollten, dass Amélie ihre Englischkenntnisse verbesserte. Also fragten sie bei den Andersons an und diese stimmten zu, Amélie für drei Monate bei sich aufzunehmen. Es war super. Amélie war sehr sportlich und interessant. Wir nahmen sie überall mit, bis sich zwischen Ryan und Amélie eine tiefere Bindung entwickelte.»
Ich schnappe hörbar nach Luft.
«Soll ich aufhören?», fragt Carlos besorgt, doch ich schüttle den Kopf.
«Nein, erzähl weiter.»
Er räuspert sich. «Nun, die Zeit verflog und Amélie musste wieder zurück nach Frankreich. Doch sie versprach ihm, ihn in den nächsten Sommerferien zu besuchen. Gesagt getan. Ein Jahr später kam sie für fünf Wochen zurück nach Amerika.
Doch aus diesen fünf Wochen wurden nur zwei und sie waren die Hölle. Amélie sah ganz anders aus, als vor einem Jahr. Sie hatte mit ihren fünfzehn Jahren schon etliche Piercings, trank und rauchte. Ausserdem hatte sie eine neue Leidenschaft. Graffiti. Sie kam hauptsächlich her, um zu randalieren.
Ryan konnte nur sehr schlecht damit umgehen. Er hatte das süsse Mädchen vom letzten Jahr erwartet. Deswegen machte er nach wenigen Tagen Schluss. Amélie war darauf hin zutiefst verletzt. Sie lief davon, betrank sich mit Freundinnen, nahm Drogen, brach in ein Geschäft ein und prügelte sich. Sie landete auf dem Polizeirevier.»
Ich sehe ihn erschrocken an. Der arme Ryan. Diese Amélie war ja furchtbar.
«Glaube mir, das Schlimmste kommt noch», sagt Carlos und schüttelt den Kopf, als könne er es immer noch nicht fassen, dass das passiert ist.
«Nun, damit war nicht genug. Als sie die Andersons am nächsten Tag abholten, behauptete sie, Ryan hätte sie dazu angestiftet zu klauen und hätte ihr die Drogen gegeben. Ausserdem soll er sie geschlagen haben, weil sie mit ihm Schluss machen wollte.»
Ich kann es nicht fassen.
«Ryan wurde festgenommen und kam vor Gericht. Es war völlig übertrieben und es war klar, dass Amélie das Ganze nur aus Verletzlichkeit erfunden hatte. Doch ihre Eltern hatten einen sehr guten Anwalt und ein paar Tage später gab es einen grossen Prozess darüber.
Da Ryan noch nicht volljährig war, bekam er keine grosse Strafe. Er musste über hundert Stunden gemeinnützige Arbeit in einem Kinderheim verrichten, aber das Zeug steht immer noch in seiner Akte und die Schule hat ihm das sehr verübelt.»
«Und was ist mit Amélie passiert?»
«Sie ist mit ihren Eltern nach Hause gegangen und hat den Kontakt mit Ryan abgebrochen. Ich schätze, das ist der Grund, wieso er am Anfang so gemein zu dir war und wieso er Schluss gemacht hat.»
Ich nicke.
Das sind gerade so viele Informationen, dass ich mich erst einmal in mein Kissen zurücklehnen muss. Das was mit Amélie passiert ist, tut mir zwar leid, trotzdem hätte er mir das schon viel früher erzählen sollen. Spätestens dann, als ich ihn nach ihr gefragt habe.
Ausserdem finde ich es schwach von ihm, dass er denkt, dass ich so wie Amélie sein könnte. Wenn das der Fall ist, dann kennt er mich aber kein Stück und irgendwie macht mich diese Tatsache gerade noch unglücklicher.
«Ich würde gerne noch länger bleiben, aber ich muss jetzt leider gehen. Mein Bruder bringt mich um, wenn ich nicht in der Autowerkstatt erscheine. Aber Rose, vergiss eines nicht, wir werden das hinkriegen, ja?»
Ich nicke, obwohl meine Gefühle gerade Achterbahn fahren.
Erneut streicht er mir über die Wange und nimmt mein Gesicht behutsam in seine Hände.
Für einen Moment habe ich das Gefühl er wird mich küssen und erstaunlicherweise möchte ich, dass er genau dies tut. Wie kann ich nur daran denken, wenn ich erst vor einer Stunde mit meinem Freund Schluss gemacht habe, den ich liebe.
Er sieht mir tief in die Augen. Ich fühle mich wie flüssiges Wachs in seinen Händen. Langsam streifen seine Finger über meine Lippen.
Doch dann nimmt er seine Hände weg und küsst mich flüchtig auf die Wange. Ein elektrisierender Schlag trifft mich genau an dieser Stelle, an der er mich geküsst hat. Reflexartig halte ich meine Hand dorthin.
Er grinst.
«Wollen wir morgen zusammen Mittagessen gehen?»
Ich nicke. «Gerne.»
«Dann bis Morgen. Wir sehen uns», und schon ist auch er verschwunden und lässt mich mit meinem Gefühlschaos zurück.
Ich denke an Ryan und seine traurige Vergangenheit mit Amélie. Irgendwie kann ich seine zu Beginn eher zurückhaltende und abgeneigte Art gegen mich nachvollziehen, aber irgendwie auch nicht. Ich meine das mit Amélie ist Jahre her.
Wie konnte er auch nur annähernd denken, dass das mit uns gleich verlaufen könnte?
Meine Gedanken schweifen zu Carlos. Durch meine Beziehung mit Ryan habe ich ihn schon fast verdrängt. Doch Carlos ist immer noch so süss und zuvorkommend wie vorher. Ausserdem wäre da noch eine weitere Eigenschaft, die ich heute an ihm entdeckt habe, und die ich überaus anziehend finde.
Und das ist seine äusserst attraktive Ausstrahlung.
Wo mir vor ein paar Wochen noch sonnenklar war, dass Ryan der Richtige ist, habe ich nun das Gefühl in eine Zwickmühle geraten zu sein.
Was ist, wenn ich einen Fehler gemacht habe? Was wenn ich trotz allem in den Falschen verliebt bin? Oder ist er eben doch der Richtige?
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FOURever
Teen Fiction«Manchmal sind es Schatten der Vergangenheit, welche uns unsere Wege nicht gehen lassen.» Die siebzehnjährige Rosalita López, kurz genannt Rose, träumte schon als kleines Kind davon, einmal in die USA, dem Heimatland ihrer Mutter, zu reisen. Nun is...