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Sam und ich verbringen auch den restlichen Vormittag mit Schreibtischarbeit und sichten alte Akten. Je mehr wir schon jetzt über die Serafins wissen, desto leichter wird uns die Arbeit in den nächsten Wochen fallen.

Bereits am frühen Mittag ist mein Dienst beendet und da ich jetzt einen Wechsel von Früh- auf Nachtschicht habe, werde ich die Wache erst morgen Nachmittag wieder betreten. Über 24 Stunden Pause. Abstand von der Arbeit, von meinen Gedanken und von Esmeralda. Durchatmen und wieder klare Gedanken fassen.

Mein Mittel der Wahl als Ausgleich ist wie immer Sport und deshalb kommt es mir gelegen, dass an diesem Abend zwei Stunden Kickbox-Training anstehen. Ich esse mit meinen Eltern und meinem Bruder zu Abend und hole dann meinen besten Freund Nedim ab.

Der junge Bosnier wohnt ebenfalls noch bei seinen Eltern, zusammen mit seinen zwei älteren Schwestern Sanela und Anisa.

Nedim trägt einen schwarzen Jogginganzug von Adidas, als er sich auf den Beifahrersitz meines Audi fallenlässt. Auf seinem schwarzen Haar sitzt eine farblich passende Snapback und seine große Sporttasche hat er kurz zuvor in den Kofferraum geschmissen.

Er schenkt mir ein warmes Lächeln und stößt seine Faust zur Begrüßung an meine. "Was geht, Bruder?", fragt er gut gelaunt. Auch wenn "Bruder" eine inflationär verwendete Floskel ist, der zufolge gefühlt halb Deutschland miteinander verwandt ist, so nehme ich Nedim diesen Ausdruck ab. Er hat mir oft gesagt, ich sei für ihn der Bruder, den er sich immer gewünscht hat. Wir sind schon zusammen im Kindergarten gewesen, danach in der selben Grundschulklasse und haben sogar gemeinsam unser Abitur gemacht.

Ich weiß, dass ich mich immer blind auf ihn verlassen kann und dass er zu tausend Prozent loyal hinter mir steht - wie ein Bruder eben.

"War ziemlich stressig auf der Arbeit. Bin froh, jetzt ein bisschen meinen Frust rauslassen zu können", gebe ich zu und starte den Wagen.

"Danke für die Warnung. Ich suche mir dann heute lieber einen anderen Sparing-Partner", feixt er und seine dunkelbraunen Augen blitzen belustigt auf.

"Feigling", ziehe ich ihn grinsend auf. Nedim ist zwar nur unbedeutend kleiner als ich, aber gut fünfzehn Kilo leichter. Er ist jedoch sehr drahtig und verfügt über eine einwandfreie Technik, weshalb er mir stets ein ebenbürtiger Gegner ist.

"Ne, ich hänge nur an meiner Nase. Die ist eigentlich ganz hübsch", erklärt er ebenfalls grinsend und betrachtet sich prüfend im Seitenspiegel, was mich zum Lachen bringt.

"Was war denn los auf der Arbeit?", hakt er nun mit etwas Verspätung nach. Ich hatte gehofft, er würde nicht fragen. Ich will die Arbeit gerade einfach nur vergessen und nicht wieder über Esmeralda nachdenken müssen.

"Ach, wir müssen uns halt erstmal einarbeiten. Ziemlich viele neue Infos in kurzer Zeit", antworte ich vage.

Nedim nickt verstehend. Er selbst hat eine Ausbildung zum Industriemechaniker bei Thyssen Krupp, einem der größten Arbeitgeber der Region, gemacht und wurde aufgrund seiner guten Leistungen nach seinem Abschluss direkt fest übernommen.

"Was ist mit Sanela? Hat sich jetzt alles geklärt?", wechsele ich das Thema.

"Hör bloß auf", stöhnt Nedim leidend. "Die drehen alle ab, Mama, Sunny und Nisa. Du weißt gar nicht, wie schlimm das ist mit drei derart hysterischen Weibern zusammen zu leben. Diese Hochzeit macht die alle noch zu Bridezillas. Ich bin froh wenn der ganze Zirkus ein Ende hat und Edin wenigstens eine dieser Verrückten mitnimmt."

"Ach komm, sie wird dir bestimmt fehlen, wenn sie dann wirklich weg ist", beschwichtige ich ihn und lenke meinen Wagen ruhig auf die Autobahn Richtung Essen.

Esmeralda - Smaragdgrüne Augen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt