17

290 19 16
                                    

Wir haben unsere Verabschiedung so lange wie möglich herausgezögert, bis schließlich eine freundliche Dame von der Rezeption angerufen und gebeten hat, zeitnah das Zimmer zu räumen und auszuchecken.

Esmeraldas und mein Abschied in der modernen Lobby des Stadthotels ist innig. Wir küssen uns ein letztes Mal in fast gespenstischer Stille, ich sauge jede Sekunde und jeden einzelnen Zentimeter ihres Körpers in mir auf, bis sie aus dem Hotel in die Kälte tritt, in ein Taxi steigt und verschwindet.

Ich warte noch einen Moment, stehe auf dem hellen Steinboden zwischen den schwarzen Ledergarnituren und hänge meinen Gedanken nach, bevor ich es ihr gleichtue.

Die Luft ist kalt und feucht, als ich aus dem beheizten Hotel auf die Hauptstraße trete. Es ist einer dieser Tage, an dem der Atem kondensiert und einen feinen Nebel in der klaren Winterluft bildet.

Ich steige in das nächstbeste Taxi und als ich dem dunkelhaarigen Fahrer mittleren Alters meine Adresse mitteile, habe ich einen dicken Kloß im Hals. Ich bin seit jeher ein sensibler Mensch, doch ich habe unterschätzt, wie weh mir die ganze Nummer tun wird.

Es ist ungefähr 12.30 Uhr als ich zuhause ankomme und damit selbst für einen Sonntag verdammt spät, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass meine Eltern und Louis bereits wach sind.

"Wo kommst du denn um diese Zeit her?", fragt meine Mutter erschrocken, als ich in derselben Kleidung durch die Tür komme, in der ich das Haus gestern verlassen habe.

"Ja, Nick, wo kommst du denn her?", ruft mein Bruder mit einem spitzen Unterton aus dem offenen Wohn-Ess-Bereich und sieht mich mit einem giftigen Blick an.

"Ich habe mich mit einem Mädchen getroffen", antworte ich meiner Mutter stumpf, ignoriere meinen Bruder und streife meine Sneakers im Hausflur von den Füßen.

"Bis jetzt?", hakt sie nach, zieht die zwei Worte viel zu sehr in die Länge und wirft mir einen entgeisterten Blick zu. Für viele junge Menschen in meinem Alter ist es sicherlich nichts Ungewöhnliches, Nächte durchzumachen, sich jemanden aufzureißen und erst in den frühen Morgenstunden nachhause zu kommen, doch meine Art ist das eigentlich nicht. Das erklärt ihre Verwunderung, obgleich es mich ärgert, dass sie so tut, als hätte sie mich gerade beim Heroin spritzen erwischt.

Ich schlucke meine aufkeimende Wut herunter, gehe einen Schritt auf die blonde Frau zu, die selbst an ihrem freien Tag bereits wie aus dem Ei gepellt aussieht, frisch frisiert, geschminkt und in einem hellgrauen Strickkleid aus weichem Kaschmir und drücke ihr einen Kuss auf die Wange. "Ja, bis jetzt. Und nun gehe ich schlafen. Gute Nacht Mama."

Ohne eine Antwort abzuwarten, laufe ich die Treppen hoch ins Dachgeschoss und schließe meine Zimmertür erschöpft hinter mir. Ich ziehe mein bunt gestreiftes Shirt über den Kopf und lasse meinen Blick kurz gefällig über meinen trainierten Oberkörper gleiten, als die Tür energisch wieder auffliegt.

"Ist das dein Ernst, Nick?", knurrt mein Bruder. Seine braunen Augen funkeln wuterfüllt. "Du warst doch nicht wirklich die ganze Nacht mit deiner rumänischen Clan-Tochter unterwegs, oder?"

Ich seufze lautlos, hebe meinen Kopf und sehe meinem älteren Bruder mit festem Blick in die Augen. "Du weißt schon, dass das streng genommen meine Sache ist und dich nichts angeht, oder?" Ich bemühe mich, mit ruhiger Stimme zu sprechen und nicht respektlos zu wirken, Louis meinen Standpunkt jedoch trotzdem klarzumachen.

"Ich weiß nicht, Nick. Wenn ich bald Mamas Hand halten muss, während sie heulend vor deinem Grab steht, ist das schon auch meine Sache, oder nicht?", schießt er zurück.
"Sei doch nicht so theatralisch", erwidere ich und verdrehe die Augen.

Louis kommt einen Schritt auf mich zu, fasst mich an den Schultern und baut sich vor mir auf. "Willst du mich eigentlich verarschen? Seit wann bist du denn so verblendet? Das ist nicht theatralisch, das ist absolut realistisch und das weißt du genauso gut wie ich. Du bist ein Polizist mit Abitur und kein dummer Grundschüler. Du kennst die Gefahren und Risiken, in die du dich da begibst, ganz genau. Du weißt, dass dein Verhalten auf allen Ebenen falsch ist, falsch für deine Gesundheit, falsch für deinen Job und auch falsch für das Mädchen. Wach endlich auf, verdammt!" Louis redet sich in Rage, wird immer lauter und fuchtelt wild mit seinen Händen vor mir herum.

Ich schlucke und senke betreten meinen Blick. "Ich weiß das alles, Louis. Es war eine einmalige Sache. Es war nur diese eine Nacht, das haben wir uns geschworen, bevor wir uns nie wieder sehen. Du kannst dich also guten Gewissens wieder beruhigen."

Ich schlucke schwer, kämpfe gegen meine aufkommenden Emotionen an, während ich noch einmal flüstere: "Wir werden uns nie wieder sehen." Ein heißes Brennen erreicht meine Augen, die sich rasant mit warmen, salzigen Tränen füllen.

Beschämt drehe ich mich weg und räuspere mich, versuche so wieder die Kontrolle über meinen Körper und die Situation zu gewinnen, doch vergeblich. Die erste Träne rinnt über meine Wange.

Louis ist überrascht, etwas ratlos und scheint nicht zu wissen, wie er am besten reagieren soll.

"Ich wollte dich nicht verletzen, man", lenkt er reuevoll ein und legt seine Hand auf meine Schulter.

"Hast du nicht, du hast nur die Wahrheit gesagt. Ich habe mich selbst verletzt. Ich hätte mich gar nicht darauf einlassen sollen, das ist mir bewusst, aber ich konnte nicht anders. Ich musste die Chance nutzen ihr wenigstens einmal nah zu sein, sie einmal ganz für mich allein zu haben, wenn wir schon keine Chance auf eine gemeinsame Zukunft haben."

All die Zweifel, all die aufgestauten und unterdrückten Emotionen der letzten Stunden, wenn nicht gar der letzten Wochen kochen in mir hoch, wie ein dunkler, heißer, mächtiger Schwall von Lava, die aus einem Vulkan ausbricht und alles Leben um sich herum unter sich begräbt und nichts als staubige, graue Asche hinterlässt.

Eine zweite Träne läuft über meine glühend warmen Wangen und ich unterdrücke ein Schluchzen.

"Es tut mir wirklich leid für dich, Nick. Es tut mir leid, dass du dich ausgerechnet in sie so sehr verguckt hast. Du bist ein guter Mann, einer der besten, die ich kenne und jede Frau dieser Welt könnte froh sein, dich an ihrer Seite zu haben, auch deine Esmeralda, aber selbst wenn sie dich ernsthaft mag und keine falschen Absichten hat, ist es noch nicht mal der falsche Ort oder die falsche Zeit, sondern es sind einfach die falschen Umstände - für euch beide."

Ihr Name versetzt meinem Herzen einen Stich. Louis zögert einen Moment und tut dann etwas, was nur selten vorkommt: Er legt seine Arme um meine breiten Schultern und zieht mich in eine brüderliche Umarmung.

"Versuch einen Haken hinter die Sache zu machen, Nick, auch wenn es weh tut. Speichere die letzte Nacht für dich als schönes, einmaliges Erlebnis ab und versuche dich auf andere Dinge zu konzentrieren. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende."

Der minzige Geruch von Louis' Shampoo steigt mir in die Nase. Ich atme noch einmal tief durch und löse mich dann aus der Kraftspendenden Umarmung meines Bruders. "Ich versuche es", antworte ich und wische mir mit dem Handrücken über die feuchten Augen.

Louis nickt mir aufmunternd zu und schenkt mir ein schiefes Lächeln. "Danke Louis."

"Nicht dafür", erwidert er und zuckt mit den Schultern. "Ich lasse dich jetzt mal in Ruhe. Wenn du reden willst oder so", er wendet sich zum Gehen, als sich ein freches Flackern in seine braunen Augen schleicht und ein Schmunzeln über seine Mundwinkel huscht. "Dann komm nicht zu mir." Er zwinkert mir zu und bringt mich damit zum Lachen.

"Ich hatte schon Angst, dass du jetzt doch noch ein guter großer Bruder wirst. Zum Glück hast du auf die letzten Meter noch einen dummen Spruch rausgehauen um deine Fürsorge zu relativieren", feixe ich und ziehe nun endlich auch meine Jeanshose aus, um sie in den Wäschekorb zu schmeißen.

"Du mich auch", lacht Louis und zieht die weiß lackierte Zimmertür hinter sich ins Schloss.

Nur mit meiner enganliegenden, schwarzen Boxershorts bekleidet kuschele ich mich müde und ausgelaugt in mein Bett und ziehe mir die Bettdecke bis zum Kinn, welches von blonden kurzen Barthaaren übersät ist.

Es dauert lange und ich durchlebe eine Achterbahnfahrt. Sobald ich meine Augen schließe, sehe ich ihre grünen Augen funkelnd wie zwei Smaragde vor mir. Ich habe ihren lieblichen Geruch mit der unverkennbaren Vanillenote in der Nase und spüre ihre vollen Lippen auf den meinen. Ich durchlebe noch einmal jede einzelne ihrer Berührungen, höre ihre sanfte Stimme in meinen Ohren und weine stumme Tränen in mein Kopfkissen, bis ich in einen tiefen Schlaf sinke und mir wünsche, Esmeralda wenigstens in meinem Traum wieder zu begegnen.

Esmeralda - Smaragdgrüne Augen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt