Verrat

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"Alexandra?", damit riss mich Herr Richter aus meinen Gedanken. Ich saß immer noch in diesem kleinen Raum voller Sitzgelegenheiten. Ich weinte, doch das erfuhr ich erst, als meine Hand nach meinen Wangen tastete. Sie waren nass. Ich konnte das einfach nicht. Niemand durfte etwas von meiner wahren Gestalt erfahren, sonst würde er enden wie mein Vater. Es war alles meine Schuld! Ich sprang auf, und sah Herrn Richter das erste mal heute in die Augen. Ich fing wieder an zu weinen, dann rief ich:" Ich kann das einfach nicht mehr!", und rannte aus dem Raum. Herr Richter kam mir hinterher "Alexandra. Bleib stehen!", hörte ich noch wie er hinter mir schrie. Doch ich war schneller. Mit meinem Rucksack auf dem Rücken rannte ich aus der Schule. Ich weiß ja, wegrennen ist nicht gerade die erste Eingebung eines Raubtieres, aber ich war in die Enge getrieben und sah keinen anderen Ausweg. Krampfhaft dachte ich nach. Es musste irgendeinen Ort geben, an dem ich sicher war. Instinktiv rief mein Drachengeist:" Nach oben!" ich befolgte diese Aussage. Ich rannte an den höchsten Ort, den ich kannte. Die Klippe über Jackson. Doch als ich dort ankam, war mir das noch nicht hoch genug. Ich musste endlich wieder fliegen! Entschlossen, verstaute ich meinen Rucksack und meine Kleidung unter einer Wurzel und verwandelte mich. Meine Hörner sprossen aus meiner Schädeldecke, aus meinem Steißbein wuchs ein großer mit Stacheln besetzter Schwanz, meine Haut wurde mit Schuppen übersät und Sekunden später stand ich als Drache auf der Klippe. Langsam, um mich wieder an das Gefühl zu gewöhnen, ließ ich meine Flügel auf und ab klappen. Danach wiederholte ich diese Bewegung ein paar mal und wurde immer schneller. Unter meinen Füßen entstand eine Staubwolke und ich erhob mich in die Luft. Ich stieß immer höher und schon war ich knapp unter den Wolken. Es fühlte sich unglaublich gut an, meinen ganzen Körper auf meinen Flügeln zu tragen und mich nur auf Diese zu verlassen. Ich stellte das Schlagen meiner Flügel ein, und ließ mich von dem warmen Aufwind tragen. Es war einfach wunderbar. Nach so vielen Jahren fühlte ich mich endlich frei. Ich flog noch etwas länger unter der Wolkendecke entlang. Von hier oben, sahen die Menschen aus wie kleine Punkte. Ich entschied mich dafür, noch kurz über die Wolken zu gucken. Also steuerte ich nach oben. Die Wolken waren dick und nass. Aber sie fühlten sich auch angenehm an. Sobald ich meinen Kopf durch die Wolken steckte, spürte ich die Sonne, die stark und ohne Umwege, direkt auf die Wolken strahlte. Es war wunderschön. Ich stieg noch etwas höher und schaute auf die Wolken hinunter. Sie sahen aus wie aus Watte. Die Sonne wärmte meinen Rücken und die Oberseite meiner Flügel. Hier oben fühlte ich mich sicher und geborgen. Hier gab es nichts das Gefahren für einen fast ausgewachsenen Drachen darstellte! Egal wie schlecht das Wetter auch unter den Wolken war, hier oben konnte es weder regnen noch stürmen. Hier oben war es immer ruhig. Es war wirklich einfach fantastisch.
Nach einer Weile, in der ich dort oben nur herum flog und die Freiheit genoss, setzte ich einen Sturzflug an. Ich schoss hinunter, immer weiter auf die Wolken zu. Meine Flügel eng an meinen Körper gedrückt und den Kopf gerade nach unten. Wie ein Pfeil schoss ich nach unten, und wurde immer schneller. Ich durchbrach die Wolkendecke und breitete meine Flügel aus. Knapp unter der Wolkendecke blieb ich in der Luft nahezu stehen und ließ mich vom warmen Aufwind tragen. Kurz danach startete ich ein Looping, den ich erfolgreich hinter mich brachte. Ich japste glücklich und setzte wieder in einen Sturzflug um. Ich steuerte genau auf die Klippe zu und landete mit einer großen Staubwolke, die meine Beine umschloss. Glücklich verwandelte ich mich zurück und zog mich an. Ich schnappte mir mein Handy aus meiner Tasche um die Uhrzeit nachzusehen. Es war schon 16:47 Uhr. Ich nahm meinen Rucksack und ging durch den Wald. Total entspannt kam ich Zuhause an, und fischte meinen Schlüssel aus der Tasche. Wie jeden Tag nach der Schule, schloss ich die Hintertür auf, da von dieser ein Feldweg in den Wald führte. Ich schlich mich die Treppe nach oben, doch als ich oben ankam, stutzte ich. Ich hörte Stimmen aus dem Schlafzimmer meiner Pflegeeltern. Ich überlegte kurz:" Die dürften eigentlich noch gar nicht Zuhause sein. Ich sollte mal reinhören." Ich näherte mich der Tür zu ihrem Zimmer, und Teilverwandelte meine Ohren, um auch jedes Wort zu verstehen. Gerade hörte ich meinen Pflegevater, Charles, sagen:" Du weißt genauso gut wie ich, dass das so nicht weiter gehen kann!" Er klang leicht wütend, und ich fragte mich über was sie wohl redeten. " Aber, meinst du nicht", sagte meine Pflegemutter, Amelia, stockte kurz und sprach dann wieder,"... Ich kann ihr das nicht antun! Sie hat ihr ganzes leben im Waisenhaus verbracht! Ich kann sie nicht wieder da rein bringen!" Sie klang unglaublich traurig und verzweifelt. Da viel mir etwas auf:" Warte! Die reden über mich! Die wollen mich ernsthaft los werden!" Schnell hörte ich noch genauer zu. Charles fing wieder an zu sprechen:" Aber wir haben heute schon wieder einen Anruf aus der Schule bekommen. Das ist nicht das erste mal! Wir beide halten das nicht mehr aus. Natürlich ist sie ein tolles Mädchen, aber sie macht einfach zu viele Probleme. Außerdem müssen wir sie ja nicht ins Waisenhaus bringen, wir kümmern uns noch um sie, bis sie von einer anderen netten Familie sofort übernommen wird. So muss sie keinen einzigen Tag mehr im Waisenhaus verbringen." Ich hörte leise, wie meine Mutter nickte, und dann machte sich jemand auf zur Tür, um sie zu öffnen. Schnell verwandelte ich meine Ohren zurück und rannte in mein Zimmer. Ich schloss die Tür ab und schmiss mich auf mein Bett. Noch vor ein paar Tagen fühlte ich mich sicher in diesem Raum, doch jetzt fühlte sich mein ganzes Leben wie eine Lüge an. "Sie wollten mich nie und sie werden mich auch nie wollen!" Das und viele andere Gedanken gingen mir durch den Kopf. Meine "Familie" hatte mich verraten. Alle hatte mich verraten! Wer interessierte sich schon für mich?! Ich fühlte mich nicht mehr sicher. Nicht in "meinem" Bett und auch nicht in diesem Zimmer! Ich setzte mich in eine Ecke des Raumes und teilverwandelte meinen Rücken. Unter meinem Pullover spürte ich Schuppen, und an meinen Schulterblättern wuchsen riesige Flügel heraus. Unter den Menschen Klamotten fühlte sich alles so falsch an. Ich riss mir den Pullover vom Körper und breitete meine riesigen Schwingen aus. Mit ihnen umhüllte ich meinen gesamten Körper und ließ mich von ihnen wärmen. Die wärme half mir etwas, doch ich weinte immer noch stark. "Keiner dieser komischen Menschen will mich! Nicht mal Diese hier! Ich bin so erbärmlich! Selbst Menschen wollen mich nicht! Ich bin so schlecht! Warum kann ich mich nicht einfach anpassen?!" Ich sah keine andere Lösung mehr. Ich musste es jetzt tun. Ich suchte mir einen freien Platz auf meinem linken Unterarm und teilverwandelte meinen rechten Zeigefinger. Ich zog eine große tiefe Linie, und schon fühlte ich mich etwas besser. Der verdammte seelisch Schmerz verschwand fast komplett, und alles worauf ich mich in diesem Moment konzentrierte war das Blut das langsam und stetig meinen Arm hinunter floss. Doch diesmal war das nicht genug. Ich spürt immer noch diese Verdammte Verzweiflung! Ich musste sie irgendwie loswerden, doch auf meinem Arm war in diesem Moment kein Platz mehr. Ich schaute auf eines meiner Knie, und schon war die Entscheidung getroffen. Auch hier war die Erleichterung, des verschwinden des seelischen Schmerzes, unbeschreiblich gut. Langsam schlief ich ein, erschöpft von der seelischen Aufregung und beruhigt durch die wärme meiner Flügel.
Nach einiger Zeit, klingelte mein Handywecker. Während ich aufstand um ihn auszuschalten, bemerkte ich kaum, dass es noch dunkel war. Ich hatte zwar im Schlaf meinen Finger zurück verwandelt, doch unbewusst meine Augen teilverwandelt. Im großen und ganzen eigentlich nicht wichtig. Ich griff nach meinem Handy und schaltete den darauf aufblinkenden Wecker aus. Dann schaute ich auf die Uhr. Es war 23:25 Uhr. Ich dachte kurz nach:" Warum habe ich mir für mitten in der Nacht einen Wecker gestellt?" Doch dann viel mir ein, dass ich noch ein Treffen mit Jeffrey hatte. Ich ging zu meinem Schrank und versuchte dabei möglichst leise zu sein, was aber nicht funktionierte, da ich öfters mit meinen Flügeln gegen Möbel in meinem Zimmer stieß. Als ich an meinem Schrank ankam, öffnete ich diesen und zog eine Schachtel hinaus. Ich öffnete Diese und sah stolz hinein. In der Schachtel befanden sich ein T-Shirt und ein Pullover, in die ich an den Schulterblättern zwei große Löcher geschnitten hatte, so dass ich meine Flügel hindurch zwängen konnte. Ich schnappte mir den Pullover, er war schwarz, und streifte ihn mir über. Schnell überprüfte ich noch, dass auch ja keiner noch wach war, dann öffnete ich mein riesiges Fenster und flog hinaus in die kühle Nacht.

Die Drachin AfrikasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt