Kapitel 16

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 „Na, dann war es keine sehr gute Überlegung von Ihnen, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass sich unsere eigene Tochter vor uns fürchtet", meinte meine Mutter gespielt beleidigt.

„Vielleicht irre ich mich auch, ich will nur sicher gehen, dass am Ende sonst nichts passiert, ja? Zudem würde ich gerne noch einmal mit Nele alleine reden", sagte Cem und sah mich wieder an. Warum musste er es denn auch drauf ankommen lassen? Die Frage ist aber, würde ich etwas sagen? Und wenn ja, was würde ich sagen?

Ja, ich habe Angst vor meinen Eltern mittlerweile, aber trotzdem glaube ich, dass es nicht so schlimm ist, wie es scheint. Ich meine, sie gaben mir ja nichts, was mir irgendwie schadet, oder?

Ich stehe auf und gehe mit Cem durch die Glastür auf den Flur, wo er mich ernst anschaut.

„Mensch, Nele. Da stimmt doch was nicht, das merke ich doch!", es klingt wie eine Art Vorwurf.

„Nein, bei mir ist alles gut. Meine Eltern sind tolle Menschen, sie kümmern sich sehr um mich!" Mir fällt auf, dass das letzte sogar stimmt. Vielleicht kümmern sie sich ein wenig zu viel um mich...Und wenn schon, zu viel Liebe in dieser Welt gefüllt mit Hass und Ausgrenzung, kann doch nicht schaden, oder?

„Bist du dir da sicher?"

„Ja, bin ich. Ich bin mir sehr sicher!", füge ich hinzu, als ich merke, wie er schon zu einer Gegenfrage ansetzt.

„Weißt du, ich möchte nur vermeiden, dass es hinterher schlimm ausgeht, ja? Jetzt mag vielleicht noch alles gut sein, aber es kann sich ganz schnell ändern."

„Ja, möglich", gebe ich etwas gelangweilt zurück. Ich glaube, er verstand nicht das Problem vor dem ich stehe. Entweder ich schwieg und machte meine Eltern stolz, was mich höchst wahrscheinlich nicht ganz glücklich machen würde, oder aber ich sagte, was passiert und riskiere, dass ich doch bei ihnen bleiben und mit noch mehr als ohnehin schon rechnen muss.

„Na gut", gab er sich langsam zufrieden, fuhr sich aber noch einmal mit der Hand über die Stirn und schien mit sich zu ringen, „Wenn dir noch etwas einfällt, dann...ruf einfach an. Du weißt schon, 110."

Das letzte sagte er mit einem Lächeln, das jedoch wieder erlosch, als meine Mutter und mein Vater aus der Glastür treten und mich auffordern, mitzukommen.

Ich trete aus der Tür in die kühle Nachtluft und drehe mich nicht noch einmal um und hoffe, dass Cem es bleiben lässt. Ja, ich habe Angst und es sieht so aus, als würde ich einfach nur irrational handeln, aber ich glaube, dass es so vielleicht besser ist. Besser in dem Sinne, dass niemand enttäuscht wird. Vermutlich werde ich mir Zuhause wünschen, einfach nur Cem alles gesagt zu haben, aber jetzt ist es zu spät. Wir fahren bereits und ich verliere die Wache aus meiner Sicht, als wir um eine Kurve biegen und nun den weg nach Hause einschlagen.

„Du warst zu spät", fängt mein Vater an.

„Ja, ich weiß, aber die Polizisten wollten mich einfach nicht gehen lassen. Ich habe mehrmals gefragt, ob ich gehen kann, aber sie haben darauf bestanden, dass ihr kommt. Ehrlich."

„Das ist uns egal. Du hast dich nicht an die abgemachte Zeit gehalten. Außerdem, warum hat uns der Polizist so komische Sachen gefragt? Was hast du gesagt?", erwidert mein Vater unbeirrt. Er sieht nicht einmal von der Straße auf, als er mit mir redet.

„Ich, ähm, habe nichts gesagt", stammle ich und versuche, mich irgendwie aus der Sache herauszureiten. Wenn sie nur wüssten, was ich gesagt habe.

„Und warum hat uns dann der Polizeikommissar dann darauf angesprochen, hm? Wir sind nicht ganz blöde, weißt du?", sagt meine Mutter in einem bedrohlichen Tonfall.

„Ich weiß nicht, warum er das gesagt hat, vermutlich, weil ich unbedingt weg wollte", verteidige ich mich weiterhin. Hoffentlich finden sie nichts heraus, das mich irgendwie angreifbar macht und der Auslöser für noch mehr Tabletten ist. Wenn ich es mir recht überlege, wäre es vermutlich besser gewesen, einfach die Wahrheit gesagt zu haben, aber, wie viel hätte das schon gebracht? Sehr wenig.

„Wir haben dir vertraut, Nele", beginnt meine Mutter auf eine Art und Weise, die in mir ein schlechtes Gewissen auslöst, „Aber du bist einfach nicht nach Hause gekommen, wo wir uns solche Sorgen um dich gemacht haben!"

Ich schlucke hart. Warum müssen sie es so dastehen lassen, dass ich immer an allem Schuld bin, egal, was passiert.

„Es tut mir leid, kommt nicht wieder vor", entschuldige ich mich so schnell es geht, weil ich weiß, dass sie sonst ewig lang darauf herumreiten und es mir noch weiter unter die Nase reiben werden.

„Oh, da bin ich mir sicher, dass das nicht wieder vorkommt", sagt meine Mutter, nun ganz ohne diesen vorwurfsvollen Tonfall. War also doch nur geschauspielert.

„Wie meinst du das?", frage ich ein wenig misstrauisch, obwohl ich ganz genau weiß, dass es nichts Gutes bedeuten wird.

„Du wirst ab jetzt nicht mehr das Haus verlassen und dich mehr auf die Schule konzentrieren , verstanden?"

„Aber...", will ich einwenden, doch breche automatisch ab, als ich den Blick meiner Mutter im Rückspiegel sehen kann.

Die Scheibe des Autos ist von innen beschlagen, sodass ich nicht viel von der Landschaft draußen sehen kann, jedoch bin ich mir sicher, dass alles da draußen interessanter und besser ist, als diese zwei Personen, die vor mir im Wagen sitzen.

Hin und wieder erleuchten Straßenlaternen das Auto und ein Strahl fällt auf mein Gesicht. Es ist wahrscheinlich eine schöne Spätsommernacht, doch bin ich mir nicht so ganz sicher, ob sie auch für mich schön enden wird.

Zumindest haben sie noch keine Andeutungen von irgendwelcher Medizin gemacht, trotzdem krampft sich mein Magen stark zusammen bei dem Gedanken, etwas zu nehmen, von dem ich nicht ganz sicher sein kann, dass es gut oder schlecht für mich ist.

Auch wenn ich die Dose oder die Flasche sehe, sie könnten es immer noch von woanders hinein gefüllt haben.

Wir halten an.

Ich sehe unser Haus durch die beschlagene Scheibe nicht sehr gut, aber dennoch kann ich etwas an meinem, besser gesagt, vor meinem Zimmerfenster sehen, das ganz nach Gitterstäben aussieht.

Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich welche sind, aber es sieht stark aus, wie vor einem Gefängnis. Nur, dass dieses Haus mein ganz persönliches Gefängnis ist und meine Eltern, meine ganz persönlichen Wärter, die mich mir Argusaugen beobachten und keinen Widerstand zulassen.


Ich hoffe, ihr seid alle gut ins neue Jahr gekommen. Ich melde mich hier mit einem neuen Kapitel, das euch hoffentlich gefällt.

- mister nobody  

Sorgen (ASDS/Auf Streife - Die Spezialisten)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt