Kapitel 35

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Sprachlos starre ich ihn an. Mein Gehirn scheint noch nicht alles verarbeitet zu haben, da stehe ich schon wieder auf meinen Füßen, fest im Griff der beiden Beamten, die meinen Rücken nach vorne beugen, sodass ich das Fliesenmuster und meine nackten Füße sehen kann. Das ständige hoch und herunter tut meinem Kreislauf nicht allzu gut und mir ist wieder speiübel.

Was habe ich den beiden getan, dass so mit mir mitgespielt wurde?

Sie laufen los und mir bleibt nichts anders übrig, als mitzulaufen. Fliesen, Fliesen, Fliesen, Fliesen, Türschwelle, Betonboden, sehe ich unter mir.

„Stephan", tönt es ein paar Meter weiter hinter mir, „Wen habt ihr da?"

„Eine junge Frau, die sagt, sie sei angeblich vergewaltigt worden. Von dem vermissten Mädchen immer noch keine Spur."

Ich will meinen Mund aufreißen und ihnen sagen, wer ich bin, was mir passiert ist und dass sie sich ihre blöde Überprüfung sonst wo hinschieben können, aber der andere Polizist, nicht Sindera, merkt anscheinend, dass ich etwas sagen will und hält mir prompt seine behandschuhte Hand vor den Mund, sodass nur noch ein Kauderwelsch aus Lauten herauskommt.

„So, jetzt ist hier mal Funkstille."

Ich schmecke das schwarze Leder seines Handschuhs. Auch, wenn er seine Hand vor meinen Mund getan hat und nicht in meinen Mund, spielt mein Würgereiz verrückt und ich übergebe mich haltlos über seine Hand und auf den Boden.

Verblüfft springt er zurück und lässt mich los. Er schüttelt, seine Hand, sodass das Erbrochene tropfenweise weg fliegt und sieht mich angewidert an. „Ich dachte, bei eurem Job hätte man seinen Kotzreiz unter Kontrolle."

Ich schlucke hart, bei meinem Job. Respektloser kann man nicht sein. Während Sindera noch abgelenkt ist und sich mit seinem anderen Kollegen unterhält, reiße ich mich los und ergreife die Flucht.

Der Wirbelsturm der vergangenen Stunden fegt hemmungslos durch meinen Kopf und hinterlässt Wut, Angst, Verzweiflung, Chaos und Panik. Und genau diese Panik übermannt mich jetzt und gibt mir einen Adrenalinschub, mit dem ich es schaffe, Sinderas Griff zu entfliehen.

Halb torkelnd, halb schwankend bewege ich mich ein paar Meter nach vorne, wo ich mich dann umdrehe und fast wieder zusammengebrochen wäre.

„Halt, stehen bleiben!", ruft mir jemand hinterher, ich weiß nicht, wer es ist, doch ist es mir ehrlicherweise egal, ich will hier nur weg.

Ein paar Meter weiter werde ich herumgerissen und Pfefferspray wird auf mich abgeschossen. Wie eine Giftschlange kommt die zähe Flüssigkeit aus der Dose geschossen und ich versuche mich abzuwenden, doch die Müdigkeit macht es mir unmöglich, auszuweichen, sodass ich frontal im Gesicht getroffen werde.

Ich gehe zu Boden. Nach Atmen ringend und japsend liege ich mit geschlossenen Augen auf dem Boden und reibe mir heftig das Gesicht, während ich immer noch keuchend nach Sauerstoff ringe. Nur verschwommen erkenne ich, wie sich die beiden Polizisten über mich beugen und mich süffisant betrachten.

Ich kann nur verwischte Formen und Umrisse sehen, doch ist mir ganz klar, was jetzt kommen wird. Sie ziehen mich hoch, drehen mich so, dass sie mich gut zum Ausgang bugsieren können und beginnen mit der Prozedur. Kraftlos schleifen meine Füße über den Untergrund und ich hänge regelrecht in ihrem Griff, als dass ich wirklich festgehalten werde.

„Und was sollte das jetzt werden?", fragt der Schwarzhaarige, Sindera, seufzend. Ich weiß es doch selbst nicht. Wieso hatte ich geglaubt, dass ich unbemerkt fliehen konnte in einem Gebäude, das nur so von Polizisten wimmelt, die mich immer noch fieberhaft suchen, obwohl sie mich längst gefunden haben.

„Ich – Sie müssen mir glauben", stammele ich, doch erneut unterbricht er mich.

„Ich muss Ihnen rein gar nichts glauben und das, was Sie hier veranstalten ist einfach nur unglaublich. Ich habe zwar schon vieles erlebt, aber dass sich jemand so wieder sträubt und nicht auf unsere Anweisen achtet, ist mir auch ein Rätsel für sich. Und sofern Sie es noch nicht mitbekommen haben, wir suchen nach einem fünfzehnjährigem Mädchen, das bedroht, vermutlich sogar verprügelt wurde und mit dem hier weiß Gott was angestellt werden kann."

Er holte Luft von seiner Schimpftirade und zog dann weiter her. „Ich möchte von Ihnen nichts mehr hören, bis wir sie dazu auffordern, verstanden?"

„Aber -"

„Nein, kein ‚aber'. Sie sind jetzt still!"

Darauf erwidere ich nichts mehr. Es hatte keinen Sinn mit jemandem zu diskutieren, der einem eh nicht glaubte. Dies hier hatte genauso viel Sinn, wie mit AfD-Mitgliedern über den Klimawandel oder eine Frauenquote zu diskutieren, nämlich gar keinen, kommt nichts bei raus.

Also lasse ich mich still nach draußen führen. Mir ist schwindelig und meine Augen tränen von dem Pfefferspray stark. Sie laufen mir über die Wangen und hinterlassen brennende Streifen, die in meine Mundwinkel laufen. Ich schmecke die Schärfe des Pfeffers und huste noch mehr, bis ich wieder ein wenig Luft bekomme und freier atmen kann.

Der Nachthimmel über mir ist so etwas Fernes und gleichzeitig Nahes, dass ich fast vor Freude auflachen muss. Selten habe ich mich über so einen prächtigen Sternenhimmel erfreut, der die Welt unter sich beleuchtet. Irgendwo hängt der Mond als dünne, nach links weisende Sichel im schwarzen Meer.

Dann gleitet meine Aufmerksamkeit wieder nach unten, zu meiner Welt, die leider schrecklich nah an mir dran ist.

Überall laufen Menschen hin und her und verteilt stehen Einsatzfahrzeuge in allen Größen und werden von den Reklameschildern in Neonfarben erleuchtet.

Ich sehe, wie immer mehr Menschen aus dem Gebäude kommen. Leicht bekleidete Frauen, die sich dicht an dicht wie ein Rudel zusammenrücken und alte Männer, die Widerstand leisten. Und dazwischen bin ich, Nele, fünfzehn Jahre alt, nackt, auf der Suche nach jemandem, der mir ein Ohr schenkt und zuhört, doch bin ich zum Schweigen verdammt.

Hinter uns kommt ein weiteres Paar Beamte hervor. Sie haben Tracy in Handschellen dabei. Ich will zu ihr und sie fragen, was jetzt passieren wird, doch diesmal kann ich mich noch nicht einmal ein paar Millimeter von der Stelle bewegen. Müde lächelt sie mir zu. Ich bin mir sicher, dass sie weiß, dass ich die Polizei gerufen habe und dass sie dadurch praktisch ihre Arbeit verloren hat, doch vielleicht ist es auch besser so.

Man setzt mich irgendwo auf eine Bank, sagt mir, dass ich mich es noch nicht einmal wagen soll einen Schritt zu tun. Und dann bin ich wieder alleine, obwohl ich doch von so vielen laut rufenden Menschen umringt bin, die alleine durcheinander schreien.

Dies ist der Augenblick, in dem ich in meine Traumwelt abtauchen kann, ohne gestört zu werden, in der ich für einen Moment verschnaufen kann, bevor es wieder mit der harten Realität weiter geht.

Kurz halte ich meine Augen noch einen Spalt breit offen, sehe unter tränenden Augen den Mann im Mond, der seine Angel nach den Sternen auswirft und mir beschwichtigend zulächelt.  

Sorgen (ASDS/Auf Streife - Die Spezialisten)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt