Ich sitze hier nur und kann nicht mehr aufhören zu weinen. Ich schluchze laut auf und schnappe hilflos nach Luft. Plötzlich kann ich nicht mehr atmen und versuche, wieder an Sauerstoff zu gelangen.
Mir kommt es hoch und ich kann gerade noch zum Badezimmer hasten, als ich kotzen muss. Gleichzeititg versuche ich Luft einzusaugen, doch Erbrochenes gerät in meine Luftröhre und ich muss wieder husten. Es brennt im Rachen und meine Augen tränen noch mehr als zuvor. Ich versuche, meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen, doch ich kann nicht aufhören, zu husten.
Mir tut alles weh und was ich möchte ist, dass alles einfach aufhört zu sein.
Ich kann Cem hinter mir hören. Er fragt mich etwas, doch mein Kopf versteht die Frage nicht und krächzt nur etwas Unverständliches zurück. Mein Oberkörper zittert haltlos und ich greife mir instinktiv an den Hals. Und dann trifft es mich und die Erinnerungen holen mich ein.
„Cem", versuche ich zu sagen, doch es kommt nicht mehr als Luft aus meinem Mund.
Wie konnte ich nur so dumm sein und mich nicht vorher daran erinnern? Weshalb ist es mir nicht früher eingefallen? Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, wie es so lange gut gegangen ist, wo es doch schon so lange her war... Oder ist es erst gestern passiert und ich habe mir das alles nur eingebildet?
Darüber konnte ich mir später Gedanken machen, denn der Schmerz und die Atemnot, die ich jetzt empfinde, sind echt und ein wenig zu real.
Instinktiv greife ich mir an den Hals und kann gerade noch ein „Nadel" hauchen, bevor mir schwarz vor meinen Augen wird.
Hinter meinen geschlossenen Augen kann ich Schatten erkennen. Die verschwommenen Gestalten bewegen sich hin und her, auf und ab. Die Rottöne vermischen sich mit Orange und bildren ein feuerartiges Flimmern auf meiner ganz persönlichen Leinwand aus Augenlidern.
Doch dann hört der Film langsam auf und es wird erneut schwarz, und meine Gedanken werden in die Unendlichkeit gerissen, in einen Mariannengraben aus Dunkelheit und nichts.
Schwarz.
Schwarz.
Schwarz.
Schwarz.
Schwarz.
Dann.
Wärme. An meiner Wange. Eine Hand mit Fingern, die langsam meinen Kiefer auf und ab fahren und eine bekannte Stimme, die ich jedoch nicht zuordnen kann. Ich will meine Finger bewegen und aufstehen, doch es klappt einfach nicht.
„Es wird alles gut", murmelt die Person neben mir, „Ich war immer für dich da und werde es auch immer sein." Mich beschleicht das Gefühl, dass das eine Lüge ist, dass es nicht stimmt, doch ich kann nicht sagen, weshalb genau.
Ich atme tief ein und aus. Es fühlt sich gut an, besser und kompletter als vorher. Ich erinnere mich wieder daran, was passiert ist. Cem hat mich besucht und wir haben geredet und ich musste weinen und mich übergeben und dann konnte ich nicht mehr atmen.
Es ist falsch anzunehmen, dass jeder, der das Bewusstsein verliert, sich nicht mehr erinnern kann, was vorher geschehen ist. Bei mir ist es anders. Bei mir ist es meistens ein wenig anders. Ich kann Dir nicht sagen, was es immer ist, doch ich weiß, dass ich etwas anderes will, und etwas anderes verdiene.
Ich muss mir selbst bewusst machen, dass es nicht meine Schuld ist, dass das alles geschehen ist. Ich wurde vergewaltigt. Es ist passiert und ich es nicht mehr ändern, jedoch muss ich jetzt, wie auch immer, die Kraft finden, weiterzumachen und nicht aufzuhören, mich nach dem Leben zu sehnen, das ich haben will.
Langsam öffne ich meine Augen und schaue durch die millimeterdünnen Schlitze durchs Zimmer. Es ist dasselbe, das ich vorher auch hatte, nichts hat sich verändert, mit der Ausnahme, dass jetzt warmes Abendlicht durch die Vorhänge scheint und den Raum in ein goldenes Licht taucht.
Das Licht bahnt sich allmählich seinen Weg durch mein Zimmer und lässt die Schatten mit zunehmender Zeit länger werden.
„Du bist so tapfer", sagt die Person neben mir. Ich habe Angst, meine Kopf zu wenden und herauszufinden, wer dieses ungute Gefühl in meiner Magengrube verursacht. Doch ich raffe meinen ganzen verbliebenen Mut zusammen und richte mich auf, nur um es einen Moment später zu bereuen.
Neben mir sitzt meine Mutter mit überschlagenen Beinen und hält meine Hand. Ihr Daumen wandert meinen Handrücken hinauf und wieder hinab.
„Mach dir keine Sorgen, alles wird gut, mein Schatz", fährt sie fort in einer versucht mütterlichen Stimme.
„Was -", versuche ich zu fragen, doch meine Stimme versagt ihren Dienst, und nur ein Krächzen kommt hervor.
„Hier", kommt Mama mir zu Hilfe und reicht mir ein Glas Wasser vom Nachttisch. Kurz überlege ich, ob sie es präpariert haben könnte, doch ich bin zu durstig und zu begierig zu erfahren, was geschehen ist, als dass ich ein Glas Wasser noch weiter in Frage stellen könnte.
„Du warst lange bewusstlos und wärst fast erstickt", beginnt Mama.
„Wie lange war ich...weg?", erkundige ich mich, das Glas Wasser in der Hand haltend.
„Etwa sechsunddreißig Stunden", während sie das sagt, kommen ihr Tränen hoch und benetzen ihre Augen.
„Sie haben eine Nadel in deinem Hals gefunden und sie mussten sie in einer Operation entfernen."
Jetzt holt sie ein Taschentuch hervor und tupft sich die Ringe unter ihren Augen trocken.
Plötzlich wird mir schrecklich bewusst, wie die Gesamtsituation aussieht. Als hätte ich bis eben nur ein paar Puzzleteile eines großen Bildes gesehen, das sich nun auf einmal in ein gigantisches vollendetes Gesamtwerk mit Signierung verwandelt. Als hätte ich wie Sherlock das letzte Indiz gebraucht, um den Mörder zu überführen.
Nur dass ich keinen Mörder fange und auch nicht Sherlock bin, sondern Nele, der gerade bewusst geworden ist, dass meine Mutter ein gewaltiges Problem hat. Ein Problem, für das sie wohl wissentlich meine Gesundheit und das Leben Anderer aufs Spiel setzt. Ich bin mir nicht sicher, wie viel die Ärzte wissen oder nicht wissen, aber ich kann mir sicher sein, dass meine Mutter sicherlich nicht so ruhig neben mir sitzen könnte, wenn man nur eine Vermutung der Kindesmisshandlung hätte.
Dies heißt im Umkehrschluss, das meine Mama unschuldig ist und ich bei ihr bleiben werde. Dies heißt auch, dass, wenn ich wieder nach Hause komme, ein Zuhause, das ich nicht mehr Zuhause nennen kann, dass sie mit mir alles machen kann, was sie will und mein Leben weitergehen wird, wie es das davor schon getan hat, wenn ich es nicht verhindere. Dies gilt es unbedingt zu tun.
:)
Ich hoffe, ihr habt einen schönen Sommer!
- mister nobody
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Sorgen (ASDS/Auf Streife - Die Spezialisten)
FanficNele ist 15 Jahre alt und ihre Eltern sorgen sich (zu) viel um sie. Sie steht ständig unter Beobachtung von ihnen und wird abhängig gemacht von ihnen... Durch einen Zufall lernt sie die Spezialisten kennen, die ihr Leben verändern werden... {medium...