„Um ehrlich zu sein", sage ich, „Habe ich noch nie Uno gespielt." Ungläubig schaut er mich an. „Du willst mir erzählen, du hast noch nie Uno gespielt?"
„Ich – nun, nein. Ist das denn so schlimm?", frage ich und will mich unter meiner Bettdecke verstecken. Mir ist aufgefallen, dass ich das immer mache, wenn mir mich jemand mit etwas konfrontiert, mich zu verstecken.
„Das ist jetzt schon ein Verbrechen", meint er und beugt sich herüber, um die Folie von der Packung zu reißen. „Aber ich würde gerne wissen, wie es geht", sage ich rasch und die Situation aufzulockern. „Na das hoffe ich doch", zwinkert er mir zu und beginnt die Karten zu mischen.
„Also, die Regeln sind an sich relativ simpel. Du hast sieben Karten auf der Hand und dein Ziel ist es, alle loszuwerden und auf den Stapel mit den Karten zu legen. Du kannst nur eine Karte auf eine andere legen, wenn sie dieselbe Zahl oder dieselbe Farbe hat. Die Schwarzen kann man immer legen, sofern es nicht die letzte Karte ist. Wenn du nur noch eine Karte auf der Hand hast, musst direkt nach dem Ablegen der vorherigen Karte ‚Uno letzte Karte' sagen."
Ich nicke langsam. Das sollte ich an sich verstanden haben. Mama und Papa haben nie mit mir Karten oder andere Spiele gespielt. Nicht einmal Brettspiele. Sie sagten immer, dass es eine Verschwendung von Zeit sei und dass man doch etwas Sinnvolleres mit der Zeit anstellen könnte.
„Okay, gut, hier sind deine sieben Karten", Cem reichte mir meinen Stapel und ich beginne meine Karten nach Farbe zu sortieren.
„Fange ich an?", frage ich und bin schon dabei eine Karte zu legen.
Es ist lustig, wie wir so spielen und nicht auf die Zeit achten. Zunächst gewinnt Cem, doch dann ziehe ich ihn ab und gewinne Runde nach Runde gegen ihn. Während er die Karten mischt, nehme ich all meinen Mut zusammen und sage das, was ich im Prinzip die ganze Zeit schon sagen will.
„Cem, ich würde dir gerne erzählen, was da alles passiert ist."
Er hält inne und legt die Spielkarten behutsam auf meinem Bett ab.
„Okay", mehr sagt er nicht, sondern sieht mich nur ernst an. Ich kann sehen, wie sich sein Körper anspannt und seine Hände sich um seine Knie verkrampfen. Er hat sicherlich nicht damit gerechnet, dass ich ihm das jetzt so sage, wo ich es doch niemandem vorher gesagt habe. Vermutlich ist es dumm, es jetzt zu erzählen, doch mein Mund ist wie immer schneller als mein Kopf.
„Ich – du weißt sicherlich, dass ich vergewaltigt wurde", plötzlich ist mein Mund unglaublich trocken und ich muss meine Zunge von meinem Gaumen reißen, die dort festgeklebt ist. Meine Augen brennen fürchterlich und ich weiß, dass ich gleich am Heulen bin.
„Da war davor noch etwas anderes und – nach dem Unfall vor... einiger Zeit, da hat meine Mutter mich in einem Auto mit einem anderen Typen genommen und wir sind weggefahren nach Polen über die Grenze. Und dann", ich schluchze laut auf.
„Wir sind in einem Flugzeug nach Tschechien geflogen, glaube ich und dann hat man mich gefangen gehalten. Mama und Papa waren da und irgendwann nicht mehr und dann wollte ich fliehen und man hat mich erwischt und dann war da so ein Mann. Und er -." Meine Stimme bricht ab. Ich will nicht weiterreden.
Ich stolpere über die nächsten Worte und kann sie nicht klar aussprechen. „Er hat – mir sehr weh getan. Und er hat mich, hat mich." Ich bringe das Wort vergewaltigt nicht über die Lippen. Es will einfach nicht meiner Kehle entfliehen.
„Vergewaltigt?", sagt Cem ruhig und sieht mich aus seinen braunen Augen mich an, die mich so sehr an Kaffee erinnern.
Ich nicke heftig, sodass ein Vorhang aus Haaren um mein Gesicht fliegt und mich erblinden lässt.
„Und dann", fahre ich mit brüchiger Stimme fort, „Wurde ich mit anderen Menschen wieder hierher gebracht und dann sollte ich tanzen vor Männern, die laut waren und Geld geworfen haben. Und sie wollten, dass ich mich bewege, doch ich konnte nicht. Und dann war da dieser andere Mann und er hat Geld bezahlt an einen anderen Mann, damit er mit mir – Sachen anstellen konnte und das hat er auch getan und -".
Auf einmal sprudeln die Worte nur so aus mir heraus und ich will alles loswerden. Es fühlt sich unheimlich befreiend an endlich all das sagen zu können, was ich vorher nicht konnte. All die Dinge, die ich mich nicht getraut habe vor den anderen auszusprechen, traue ich mich nun vor Cem. Er sieht so unglaublich traurig aus.
„Er hat mir sehr weh getan und dann habe ich irgendwie die Polizei gerufen und dann ging alles so schnell und ich war so müde und wollte nur noch schlafen oder tot sein und es tat alles so weh und ich weiß nicht mehr, wie ich hierher gekommen bin und ich will, dass alles aufhört und es tut so weh."
Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchze haltlos los. Ich schüttele mich und zittere am gesamten Körper. Ich rolle mich auf meinem Bett auf der Seite zusammen und ersticke mein weinendes Ich in der Bettdecke. Ich schreie und kneife mich, um zu vergessen, wie es war, wie seine Hände sich auf meinem Körper anfühlten, wie es zwischen meine Beinen wehtat. Die Ärzte lagen falsch, als sie mir sagten, dass ich in guter Verfassung bin. In Wahrheit bin ich ein Wrack, das nur auf seinen mentalen Zusammenbruch gewartet hat.
Jetzt, wo ich den Schock verarbeitet habe, geht es mir wieder dreckig und die Realität holt mich schneller ein, als ich gehofft habe. Jetzt erst verstehe ich, was es eigentlich bedeutet vergewaltigt zu werden. Es bedeutet, dass man dir die Kontrolle und deine Selbstbestimmung nimmt und du gezwungen bist, dich dem Körper der anderen Person anzupassen.
Es bedeutet, dass jemand sich an dir zu schaffen macht, Dinge mit dir anstellt, die du nicht willst und dir damit Leid zufügt. Es bedeutet, dass diese Person dich anfassen kann, wo sie will, weil du abgeschaltet hast und hoffst, dass es endlich vorüber ist. Dass dein Kopf den Schmerz nicht mehr verarbeiten kann, weil zu viel auf ihn einprügelt.
Es bedeutet, dass jemand deine eigenen, persönlichen Grenzen überschreitet und sich deinen Körper zu eigen macht und damit irreversibel sich in deinen Gedanken einnistet, sodass du nicht mehr frei Denken oder Atmen kannst und einfach nur noch alles vergessen willst. Es bedeutet, dass du nicht depressiv bist, aber am nächsten Tag nur nicht mehr aufwachen möchtest.
Ein etwas persönlicheres Kapitel, da ich selber Missbrauch in Form eines ehemaligen Trainers in meinem alten Sportverein erfahren habe. Wenn ihr selber Opfer seid, dann vertraut euch bitte, bitte jemandem an, ob es Freund, Tante, Oma, Nachbar oder Lehrer ist. Bitte redet darüber und fresst es nicht in euch hinein, denn es macht euch so kaputt, glaubt mir.
Wenn ihr auch so jemanden zum Reden braucht, könnt ihr mir gerne schreiben, ich höre euch zu.
- mister nobody
DU LIEST GERADE
Sorgen (ASDS/Auf Streife - Die Spezialisten)
FanfictionNele ist 15 Jahre alt und ihre Eltern sorgen sich (zu) viel um sie. Sie steht ständig unter Beobachtung von ihnen und wird abhängig gemacht von ihnen... Durch einen Zufall lernt sie die Spezialisten kennen, die ihr Leben verändern werden... {medium...