Kapitel 38

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Langsam setzt sich der Rettungswagen in Bewegung. Ich bin mir sicher, dass wir in Richtung Krankenhaus fahren. Jetzt übermannt mich die Müdigkeit erneut und mir fallen immer wieder die Augen zu. Ich will nicht schlafen, habe zu viel Angst davor, in schlechte Träume abzutauchen. Und so reiße ich sie gleich wieder auf und schaue mich ängstlich um, als ob sich etwas in den paar Sekunden, in denen ich weg war, verändert hätte.

Ich merke, wie wir abbiegen, Straßen lang fahren, wieder abbiegen und dann geradeaus fahren. Das Licht der Straßenlaternen fällt durch die getönten Scheiben auf die Szenerie innerhalb des Fahrzeuges. Franco ist die ganze Zeit bei mir. Zudem der Notarzt mit den hellbraunen Locken. Sie unterhalten sich leise und sehen ab und zu nach mir.

Die Fahrt fühlt sich ewig an und ist doch so schnell wieder vorbei. Als ich ausgeladen werde, sehe ich wieder den Himmel über mir, der sich an den Rändern bereits hellblau färbt und Sterne mit sich verschluckt. Ich werde heraus geschoben und durch die Notaufnahme direkt in einen Behandlungsraum, einen Flur weiter gebracht.

Leute um mich herum wechseln Positionen und plötzlich bin ich von neuen Menschen umringt, die sich um mich scharren und vorsichtig die Decken öffnen, um mich aus meinem Kokon zu befreien. Wie ein zu schwacher Schmetterling, denke ich. Wenigstens habe ich schon eine schöne Farbe.

Irgendwer in weiß oder hellblau leuchtet mir in die Augen, sodass ich für einen Moment erblinde, bis ich wieder klar sehen kann. Ein junger Arzt mit tief schwarzen Haaren und Brille sieht mich an und redet mit mir, doch ich kann nicht verstehen, was er sagt.

Und wieder bin ich müde. So unglaublich müde, dass ich mir erlaube, die Augen trotz des Protests der Ärzte zuzumachen. Nur für einen Moment, kurz...erholen...

Als ich wieder meine Augen öffne, bin ich nicht mehr in dem Behandlungsraum, sondern in einem weichen Bett mit noch weicheren Kissen. Ich richte mich kurz auf, doch ehe ich mich versehe, lasse ich mich wieder zurückfallen und schließe meine Tonnen schweren Lider.

Ich kuschle mich in die weißen Laken und genieße die Wärme, die sie spenden. Ich bin noch nicht einmal überrascht oder geschockt, dass ich länger geschlafen habe. Wie lange hatte ich da eben nicht geschlafen und was war mir nochmal passiert? Der pure Sarkasmus ist mir gar nicht aufgefallen, bis ich zu Ende gedacht habe. Ist es so bei Menschen mit einer potentiellen Schwangerenberatungsstelle, dass sie nicht mehr klar denken können und nur noch in Ironie und Rätseln sprechen? Vielleicht.

Ich sage ‚Vielleicht' auch schon viel zu häufig. Ich verfluche mich und will an etwas anderes denken, mir Sorgen über alles, was jetzt kommt machen, doch ich fühle mich merkwürdig leicht und meine Glieder sind komisch schwer.

Wie jemand, der eine Erleuchtung hat, hebe ich meinen bandagierten Arm in die Höhe und mustere ihn, gehe mit meinen Augen ganz nah an den Verband heran, als ob ich prüfen wollte, ob der auch wirklich echt ist. Hat man mir Morphium gegeben?

Ich bin froh, dass sie mich haben schlafen lassen und nicht gezwungen haben, all ihre Fragen und Forderungen auf einmal eine befriedigende Antwort zu geben. Das würde ich wohl nie können.

Eine ganze Weile liege ich nur im Halbschlaf da, mal wach, dann mit fast geschlossenen Lidern, die Sonnenstrahlen, die sich durch die Vorhänge bahnen, beobachtend.

Niemand kommt herein und stört mein kleines Delirium.

Ich sehe, wie die Sonnen über den Himmel wandert, hoch über den Häusern der Stadt steht und dann langsam hinter den Betonfassaden und fernen Baumkronen verschwindet.

In diesem Moment, in dem ich wieder schlafen will, wird die Tür aufgerissen und jemand kommt herein. Kurz herrscht Stille, in der sich die Person vergewissert, ob ich schlafe oder nicht, doch bereitwillig drehe ich mich auf die andere Seite und sehe den jungen Arzt aus der Notaufnahme vor mir stehen.

„Schön, dass du wieder wach bist, Nele", kommt er lächelnd auf mich zu. Wieso wissen immer alle, wie ich heiße, während ich keinen Schimmer habe, wer vor mir steht?

Neben ihm kommt eine Krankenschwester herein, die sich an meinem Infusionsständer zu schaffen macht.

„Was passiert jetzt mit mir?", frage ich leise, um meine Stimme auszutesten, was sie noch kann.

Der Arzt mustert mich über den Rand seiner Brille und setzt sich dann neben mir aufs Bett, sodass die Matratze etwa zehn Zentimeter weit einsinkt.

„Nele, du musst verstehen, dass wir etwas geschockt sind, von dem, was passiert ist."

Ich nicke, das bin ich ja selber.

„Zunächst ist da die Aussage von zwei Rettungssanitätern, dass du und deine Mutter die beiden und eine weitere unschuldige Person niedergeschlagen hättet und dann weggefahren wärt. Da ist ein Rettungswagen mit Frontalschaden in der Werkstatt, du kommt hier mit unglaublichen Verletzungen an und die Polizei möchte dringend mit dir reden, weil du möglicherweise noch mehr Dinge weißt und darauf kommt noch, dass du aus einem Bordell angerufen hast, in dem illegaler Menschenhandel betrieben wird und der vielleicht in Kontakt mit einer noch größeren Gruppe steht." Er fährt sich mit dem Daumen an seiner Schläfe entlang.

So wie er es alles aufzählt, ist das schon eine Menge, doch ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich es bereits als solche verstanden habe.

Langsam nickend sehe ich ihn wieder an. Was er da sagt, ist nicht ganz falsch, aber für mich ist es so schwierig das alles zu verarbeiten und zu realisieren, dass das alles mir passiert ist. Einem ganz normalen Mädchen, dass einfach nur ein bisschen mehr Pech im Leben hatte, als andere.

„Ich denke, dass du noch ein wenig Ruhe brauchst, bis du mit der Polizei reden und eine Aussage treffen kannst. Bis dahin hast du hier strikte Bettruhe und ich würde es gerne haben, dass du mit einer unserer Kinderpsychologin redest. Ein Sanitäter gab an, dass du dich leer fühlst. Ist das für dich in Ordnung?

Ist es. Mir soll es gleich sein und wenn diese Frau das Chaos in meinem Kopf lichten kann.

„Bei der nächsten Visite würde ich dann auch mit dir darüber reden, welche genauen Beschwerden du eigentlich hast, ich glaube, dass das alles ein bisschen viel für einen Tag beziehungsweise für eine Nacht ist."

Wieder liegt er richtig.

Als ich wieder alleine bin, fallen mir augenblicklich meine Lider zu und ich falle in einen tiefen Schlaf, der von merkwürdigen Bildern der vergangenen Tage gefüllt ist.  

Sorgen (ASDS/Auf Streife - Die Spezialisten)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt