Kapitel 9

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Den Rest der Autofahrt redete ich kein Wort mehr mit meinen Eltern. Sie unterhielten sich über etwas, doch ich konnte dem nicht ganz folgen, da das Blut in meinem Kopf rauschte vor Wut.

Ich war stocksauer. Wieso konnte ich nicht einfach im Krankenhaus das gesagt haben, dass meine Eltern Psychos sind? Wieso habe ich geschwiegen?

Ich blickte aus dem Fenster und sah grüne und graue Flecken an mir vorbeiziehen. Was mich zu Hause wohl erwarten würde? Vergitterte Fenster und gestreifte Anzüge? Vermutlich nicht, aber wahrscheinlich ähnlich schlimm.

Wir hielten. Ich blickte auf. Wir hatten an einer Raststätte gehalten und mein Vater war ausgestiegen. Meine Mutter blickte auf ihr Handy runter. Niemand schien sich für mich zu interessieren. Mein Vater war zu einem anderen Auto gegangen und dahinter verschwunden, sodass man ihn nur zur Hälfte sah.

Es wäre der perfekte Augenblick zur Flucht.

Ich versuchte leise die Klinke der Autotür zu öffnen, doch es war abgeschlossen. Verdammt.

„Du brauchst es gar nicht erst zu versuchen", meinte meine Mutter, ohne aufzuschauen, „Wir haben geahnt, dass du mal wieder versuchen würdest zu fliehen"

„Ja!", rief ich entrüstet, „Weil ihr so schlechte Eltern seid!"

Jetzt drehte sich meine Mutter zu mir um und spie mir die Wörter förmlich ins Gesicht „Wir ermöglichen dir alles! Nur wegen uns hast du so gute Noten, nur wegen uns kannst du an sportlichen Wettkämpfen teilnehmen, nur wegen uns kannst du ein perfektes Leben leben! Aber nein, du trittst das alles mit Füßen, als ob es dir gar nichts bedeuten würde. Dankbarkeit wäre wirklich mal angebracht!"

„Dankbarkeit? Wofür denn?! Dass ihr mein Leben kontrolliert und mich keine eigenen Entscheidungen treffen lasst?"

„Wir lassen dir eine Menge Freiheiten! Wenn es nach uns ginge, dürftest du dich auch nicht mit einer deiner dummen, armen Freundinnen treffen!"

„Wie könnt ihr es wagen, andere Menschen zu beurteilen, obwohl ihr sie gar nicht richtig kennt!"

„In ein paar Jahren wirst du uns dankbar sein, dass wir dich zu den richtigen Leuten gebracht haben, bei denen du erfolgreich wirst. Das alles machen wir nur für dich!"

„Wohl kaum werde ich weder jetzt, noch in der Zukunft, für ein eingesperrtes Leben hinter Gittern mich bedanken!"

„Das wird Konsequenzen haben, das sag ich dir!"

Und damit drehte sich meine Mutter wieder nach vorne. Den letzten Satz hatte sie so gesagt, dass es mir kalt den Rücken herunterlief. Ich hatte sie immer für eine Hexe und eine schreckliche Frau gehalten, doch bisher war es nur mein Vater gewesen, der mich mal geschlagen hatte, wenn sie mal gar nicht mit mir zufrieden waren. Doch jetzt war ich mir nicht mehr ganz so sicher.

Mein Vater öffnete wieder die Tür. Er hatte anscheinend hinter dem Auto ein Paket bekommen, das er jetzt in der Hand hielt. Es war mit Packpapier umwickelt, sodass man nicht sehen konnte, um was es sich handelte.

„Ist es das, was wir wollten?", fragte meine Mutter. „Ja, er hat sich dieses Mal sogar noch übertroffen"

„Na dann ist ja gut"

Ich brauchte erst gar nicht zu fragen, was in dem Paket war oder wer „er" war, denn seit ich klein war, beantworteten sie mir keine persönlichen Fragen, damit ich „mich auf meine Sache konzentrieren kann".

Wir fuhren nun wirklich nach Hause.

Auch als wir zu Hause angekommen waren, sprach ich mit meinen Eltern kein Wort. Zu groß war nun meine Wut auf sie.

Ich ging auf mein Zimmer. Es war aufgeräumt, so wie immer. Dies war einer der Gründe, warum es fast unmöglich war etwas Privates vor meinen Eltern geheim zuhalten, denn immer, wenn ich in der Schule bin, durchsuchen sie mein Zimmer. Das merkt man, weil manchmal Dinge an einem anderen Platz sind, wo man sie zurückgelassen hat.

Auf dem Schreibtisch lag eine Broschüre mit dem Titel „European's best online school is offering you a place!"

Wollten sie mich auch nun ernsthaft aus der Schule nehmen, damit sie mich noch mehr kontrollieren können? Ich packte die Broschüre heftig und rannte die Treppe hinunter.

„Was soll das?!"

„Was soll was?", fragte mein Vater in einem ruhigen Ton, der mich nur noch mehr aufregte.

„Das hier!", rief ich noch lauter und hielt die Broschüre hoch.

„Deine Mutter und ich haben beschlossen, dass es für dich besser ist, wenn du zu Hause unterrichtet wirst, damit du nicht von den armen Kindern abgelenkt wirst und dich optimal auf die Universität vorbereiten kannst"

„Die Schule war der einzige Ort, an dem ich noch machen konnte, was ich wollte, ohne euch!"

„Jetzt stell dich mal nicht so an!"

Ich stöhnte auf und rannte wieder die Marmortreppe hoch in mein Zimmer. Das konnte echt nicht deren ernst sein! Ich warf mich auf mein Bett und schrie für eine unbestimmte Zeit lang in mein Kissen.

Ich drehte mich wieder um und starrte an die klinisch weiß gestrichene Decke. Ich hasste dieses Weiß so sehr.

Ich schlug die Broschüre auf. Zu sehen waren ein paar in die Kamera grinsende Kinder vor Apple-Computern. Ich wollte das nicht. Ich wollte das alles einfach nicht. Ich würde so viel lieber einfach normal sein. Einfach nicht gut und nicht schlecht, einfach normal.

Wieder glitt mein Blick zu dem klinisch weißen Hintergrund. Das Weiß musste sich mal verändern. Ich nahm einen schwarzen dicken Edding von meinem Schreibtisch und schrieb in großen Buchstaben quer über die Wand „One solution, revolution". Ich bin zwar nicht linksextrem und unterstütze die Antifa auch nicht, doch ich glaube, dass dieser Spruch meine Eltern am meisten Ärgern wird. Da war es mir dann auch gleich, von wo er kommt, solange er nicht menschenverachtend ist.

Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass ich es bald bereuen werde, doch für den Moment verlieh es mir eine Art rebellische Stimmung und vielleicht sogar etwas Hoffnung, bald normaler zu leben. 



Sorgen (ASDS/Auf Streife - Die Spezialisten)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt