Kapitel 26

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Wir fahren weiter und weiter, mal über Feldwege, mal über geteerte Straßen und wiederum mal über die Autobahn. Insgesamt kann ich jedoch feststellen, dass wir mehr die unbefahrbaren Straßen und Wege benutzen und die Landstraßen meiden. Der muskulöse Mann hinter dem Steuer, der sich als Thomas herausgestellt hat, schweigt die meiste Zeit, während meine Mutter immer noch aufgeregt in ihr Telefon redet, jedoch nicht mehr auf Deutsch oder Englisch, sondern einer slawischen Sprache, die ich nicht ganz zuordnen kann, vermutlich aber eher Russisch oder Polnisch.

Das Auto hält. Diesmal länger und nicht wie an einer Kreuzung, sodass ich aufblicke und aus dem Fenster schaue. Wir sind an einem Flughafen angekommen, zumindest sieht es so aus. Irgendwo in der Ferne kann ich den Tower sehen und die lange flache Landebahn, auf der ein etwa mittelgroßes Flugzeug mit schon laufenden Maschinen steht.

Thomas hält etwas am Rand und meine Tür wird aufgerissen. Meine Mutter befiehlt mir herauszukommen und mich still zu verhalten. Mir knicken die Knie ein, sodass ich hart auf den nach Treibstoff riechenden Boden falle und dort liegen bleibe.

Ich ziehe meine Beine an und richte mich nicht auf.

„Jetzt steh auf!", schreit meine Mutter über den ohrenbetäubenden Lärm des einmotorigen Doppeldeckers und verdreht ihre Augen.

Kurz stehen wir da und starren uns alle an, sodass, in gewisser Maßen, eine peinliche Stille entsteht, bis Thomas mich hochzieht und unsanft in Richtung Flugzeug trägt. Es ist in Militärfarben lackiert und das matte Grün blättert an einen Stellen vom Aluminiumgestell. Anscheinend ist das Flugzeug nicht mehr das Jüngste, denn überall sind festgenietete Platten zu erkennen, die garantiert nicht immer da waren. Meine Panik steigt weiter an. Ich kann mir kaum vorstellen, dass dieser Berg aus Metall irgendwie in der Luft bleiben kann.

Eine Treppe zum Besteigen des Fliegers gibt es nicht, denn Thomas hebt mich in die Öffnung an der Seite, wobei ich mir hart den Kopf am Rahmen stoße und aufstöhne. Er lässt mich auf eine der spärlichen Sitzbänke fallen und grunzt mir entgegen, dass ich mich anschnallen soll. Ich nehme den ausgefransten Gurt neben mir zur Kenntnis, doch suche vergeblich nach einem Anschnaller, sodass ich bete, dass wir auf diesem Flug keine Notlandung und halsbrecherische Manöver fliegen müssen.

Meine Mutter steigt ein wenig eleganter hinterher und setzt sich auf den Sitz des Co-Piloten im Cockpit. Ich sehe durch die kleine Tür auf der linken Seite schon einen hochgewachsenen Mann mit schwarzen Haaren und einer langen Nase sitzen, der ein paar Kopfhörer aufhat. Ein solches Paar setzt sich jetzt auch meine Mutter auf die dunklen Haare. Thomas setzt sich irgendwo weiter nach vorne, sodass ich alleine hinten bleibe.

Ich bekomme noch mehr Angst, als ich merke, wie sich das Flugzeug in Bewegung setzt und wir weiter in Richtung Startbahn rollen. Ich bin davon überzeugt, dass das nicht legal sein kann, doch bisher fällt mir noch kein Weg ein zu fliehen.

Verdammt, denke ich und erinnere mich an mein eines Mal auf der Polizeistation. Wieso hatte ich dort nicht alles erzählt? Wieso hatte ich nur gedacht, dass das, was passiert normal und meine Schuld ist?

Mein Puls rast in meinen Ohren und augenblicklich wird mir schlecht. Ich halte die Luft an, um mich nicht übergeben zu müssen und erst nach einiger Zeit verfliegt das Gefühl von Übelkeit. Dann erst nehme ich meine Umgebung zum ersten Mal so richtig war.

Wie ich schon vermutet hatte, hatte das Flugzeug schon einige Jahre auf dem Buckel und war an fast jeder Stelle schon einmal geflickt worden, mal wurde etwas über etwas anderes genietet, manchmal aber auch nur notdürftig mit Klebeband gesichert und später vergessen.

Mir kommt eine Erinnerung aus meiner Kindheit hoch, als meine Eltern noch nicht so sehr davon besessen waren, ein makelloses Kind zu haben. Wir waren damals in den Urlaub geflogen nach Spanien. Es war mein erster Flug gewesen und ich weiß noch, wie eine kleine Nele aufgeregt auf ihrem Platz saß und sich die Nase an der Fensterscheibe platt gedrückt hatte.

Dies hier ist mein dritter, dem Zustand des Flugzeugs zu entnehmend, vielleicht auch mein letzter Flug. Ich konnte nicht aus dem Fenster sehen, doch ich merkte an der Vibration unter meinen Füßen, dass wir schon flogen. Es knackte in meinen Ohren und ich hatte jetzt eine ungefähre Vorstellung davon, wie hoch wir waren.

Ich klammere mich die ganze Zeit an den Sitzgurt, denn bei näherer Betrachtung des Bodens kann ich sehen, dass dort einzelne Löcher sind, manche von ihnen mit Zigarettenstummeln gestopft, andere noch nicht verschlossen, sodass ich kalte Luft aus Löchern mit einem Durchmesser von einem Zentimeter an meinen Beinen vorbeistreifen fühle.

Schweiß steht mir auf der Stirn und wie so oft in den letzten Stunden bereue ich es, nicht einfach zur Polizei gegangen und meine Eltern angezeigt zu haben. Aber nein, jetzt sitze ich in einem einmotorigen Doppeldecker, der wahrscheinlich noch aus der Sowjetunion stammt und vielleicht abstürzen könnte, auf dem Weg nach Weiß-Gott-Wo.

Trotzdem fällt mir mein Versprechen mit mir selbst wieder ein. Ich werde kämpfen, komme was wolle, aber besonders, komme wer wolle. Müde lächele ich über meine mich selbst aufbauenden Versuche Hoffnung zu finden. Wieso glaube ich nur daran, dass ich irgendwann aus dieser ganzen Situation herauskommen könnte?

Motorenlärm dröhnt mir in den Ohren, sodass ich nicht einmal schlafen kann. Ohnehin würde ich wahrscheinlich kein Auge zubekommen, zu hoch ist einfach der Adrenalinpegel in meinem Blut.

Ich schaue aus dem kleinen Fenster, dass ich gerade so sehen kann. Nur Grün kann ich sehen, dass hier und da von ein paar grauen Strichen, Autobahnen, durchzogen ist, ansonsten sehe ich nur hellgrüne Wiesen und dunkelgrüne Waldgebiete. Jetzt geht es in die Berge. Wir durchstoßen weiße Wolkenketten und immer wieder kann ich die Spitzen der Berge und die Täler erkennen.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir schon geflogen sind, als wir endlich zur Landung ansetzen. Knatternd bewegt sich das Flugzeug in Richtung Boden, der nicht mehr aus endlosen Flächen besteht, sondern aus einer kleine Anlage, an deren Seite eine Landebahn zu sehen ist.

Wenn man einen Flughafen baut, dann sollte man ihn auf einer weiten Ebene bauen, damit, wenn ein Pilot mal Landeschwierigkeiten hat, er einfach weg fliegen oder zur Not auf dem Rasen landen kann. Dieser Flughafen war das komplette Gegenteil: in den Bergen gelegen und mit einer so kurzen Landebahn, das es mir wie eine Spielzeugstraße vorkommt.

Dennoch manövriert Thomas den alten Flieger souverän auf den Boden.

Als wir aussteigen kommt mir wieder fast mein Mageninhalt hoch und der Geruch von Kerosin sticht unangenehm in meiner Nase. Meine Mutter wird von meinem Vater empfangen, der über das windige Rollfeld zu uns hinüber kommt.

Strahlend blickt er mich an und sagt „Willkommen in Tschechien, besser gesagt, in Pilsen!"

Unter dem letzten Kapitel hatte ich euch gefragt, ob ihr denkt, ob sie es schafft, woraufhin jemand kommentiert hatte, dass der Protagonist es doch immer schaffen würde, Nele es also auch schaffen wird.

Was wäre, wenn ich sie einfach, hart ausgedrückt, sterben lasse? Es würde mal ein etwas anderes Ende der Geschichte sein und Individualität wollen wir doch alle. Was haltet ihr davon?

- mister nobody

Sorgen (ASDS/Auf Streife - Die Spezialisten)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt