Kapitel 45

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„Ach Nele, das wird bestimmt nicht schlimm. Ich arbeite mit der Familie Henker schon seit vielen Jahren zusammen und bisher gab es wirklich keine schlimmen Vorfälle, die mir oder meinen Kollegen bekannt sind", sagt die Mitarbeiterin vom Jugendamt, Frau Hoffmeyer, zu mir als wir in ihrem roten Fiat Punto in der Einfahrt zu meiner neuen Familie, einer Pflegefamilie, stehen.

Ich sehe aus dem Fenster und habe das Gefühl, dass sich die Welt mal wieder meine Gefühlswelt zu eigen gemacht hat. Dicke Regentropfen prasseln aufs Dach und ich sehe durch Schlieren aus Wasser nach draußen in die verschwommene Welt.

Nach einer Weile bin ich mir unsicher, was ich sagen soll. Es ist zur Zeit schwierig, meine Gedanken in Worte zu fassen, weil ich glaube, dass es kein Wort gibt, dass mein Gefühl von nirgendwo hinzupassen und die damit verbundene Zerrissenheit auch nur annähernd beschreuben könnte.

Frau Hoffmeyer ist eigentlich gar nicht so schlimm, wie ich gedacht habe, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Bei unserem ersten Treffen hat sie mir erzählt, wie sie es sich zur Aufgabe gemacht hat, wirklich einen Unterschied zu machen, da sie selbst in einer Pflegefamilie aufgewachsen sei und daher weiß, wie ich mich fühlen würde.

Sie wirkt auch wirklich so, als würde sie sich um mich kümmern wollen, doch ich habe immer noch das Gefühl, als würde ich ganz alleine sein.

Ich habe mir selber geschworen, dass ich versuche, das Beste aus dieser Situation zu machen und mir Mühe zu geben weiterzumachen. Was soll ich denn auch sonst machen? Aufgeben? Möglich, aber es kann nur besser werden als jetzt.

„Gib ihnen doch bitte eine Chance, Nele", sagt Frau Hoffmeyer, und sieht mich mit einem leicht zur Seite geneigten Kopf an. Ich weiche ihrem Blick aus und schaue aus dem Fenster auf das gelb verputzte Vorstadthaus mit Schieferdach.

„Ich rufe dich morgen Nachmittag an, ja? Dann kannst du mir erzählen, wie es dir geht", fügt sie hinzu, „Aber natürlich nur, wenn du möchtest. Sonst kann ich auch deine Therapeutin anrufen, sie freut sich bestimmt auch von dir zu hören."

Langsam nicke ich und öffne die Tür. Ich werfe mir meinen Rucksack über die Schulter und hole von der Rückbank eine große Sporttasche, wo alles, was ich von Zuhause mitnehmen wollte, drin ist.

„Soll ich dich zur Tür bringen?", fragt die Hoffmeyer aus dem Auto heraus.

„Passt schon, danke", antworte ich und gehe auf die Tür zu.

Ein bisschen Angst habe ich ja schon als ich vor der Klingel stehe. Mein Blick wird von der Regenbogen-Fußmatte angezogen und ich muss leicht schmunzeln. Vielleicht wird es doch nicht so schlimm, wie ich dachte.

Ich schlucke das flaue Gefühl herunter, strecke die Brust heraus und klingel.

Es dauert keine drei Sekunden bis die Tür von einem Herren in seinen Vierzigern aufgerissen wird. Er hat tiefe, stahlblaue Augen und kurzes weißblondes Haar, welches mit grauen Strähnen durchzogen ist. Kurz wirkt er irritiert, doch dann lächelt er mich breit an.

„Du musst Nele sein, richtig?"

Wer denn auch sonst denke ich, aber sage nichts Freches.

„Ach Kind, komm' doch rein, es sieht ja schrecklich aus draußen", sagt er und wirft einen misstrauischen Blick nach draußen. Frau Hoffmeyer ist schon weg.

Ich trete über die Türschwelle und warme Luft, die stark nach Zimt und Steinofenpizza riecht, erschlägt mich. Meine vom Regen leicht feuchte Haut fängt augenblicklich an zu trocknen. Ich schaue mich um und erkenne einen Ständer voller Regenschirme, eine Garderobe mit Bergen an Jacken und Pullovern und Schuhe, die durcheinander unter der Ablage stehen.

„Wir freuen uns dich kennenzulernen, Nele", sagt der Mann, „Ich bin Johannes."

Über die Schulter ruft er in die Richtung des Zimtgeruchs „Schatz, Nele ist da."

Augenblicklich erscheint eine Frau mir gegenüber im Türrahmen. Sie hat genauso blonde Haare wie ihr Mann, aber warme dunkelbraune Augen, die mich an den Kaffee erinnern, den Frau Hoffmeyer mir noch vor ein paar Stunden eingeschänkt hatte.

Sie kommt auf mich zu und schließt mich in eine knochenbrechende Umarmung, die mir die Luft aus den Lungen zu drücken scheint.

„Schön, dass du endlich da bist, wir haben schon uns sehr auf dich gefreut! Ich bin Janna."

Sie wirkt ehrlich so, als würde sie sich auf mich freuen, doch bin ich selbst noch nicht ganz so sicher, ob ich mich auch so freue, wie sie es tut.

Ich versuceh unbemerkt tief durchzuatmen und mich auf meine Mission zu konzentrieren, nämlich dies als neue Chance zu sehen für mich und mein kaputtes Leben. Ich muss das hier alles nur wollen, dann wird es auch schon funktionieren.

Mein Atemzug wurde anscheinend bemerkt, denn Johannes mwendet sich seiner Frau ab und mir zu.

„Wenn du möchtest, dann pack' erstmal ganz in Ruhe in deinem Zimmer aus, es gibt in etwa zwanzig Minuten Abendbrot."

Ich bin mir unsicher, was für eine Antwort von mir erwartet wird, deshalb sage ich einfach „Oh toll, es riecht hier so sehr nach Zimt, ich liebe Zimt."

„Fantastisch!", Janna scheint sich gar nicht mehr einzukriegen, „Ich nämlich auch. Ich habe frische Zimtschnecken als Nachtisch gemacht."

Ich lächle in mich hinein und plötzlich wird mir wieder warm ums Herz. Bisher scheint es, als würden zwei fremde Menschen mir ihre bedinungslose Liebe geben, wie es Eltern bei der Geburt ihres Kindes tun würden. Als wäre dies meine zweite Geburt. In einen Haushalt, der Zimt über alles liebt.

„Ich würde gerne einmal auspacken, wenn das okay ist", schiebe ich leise hinterher und versuche den Blick auf Sporttasche und meinen Rucksack zu lenken.

„Natürlich", sagt Johannes und nimmt meine Tasche in die Hand, „Ich zeig dir dein Zimmer."

Er geht voran die dünne, mit Teppich überzogene Treppe nach oben. An den Wänden der Treppe hängen Urlaubsbilder und Familienfotos. Zwischen Bildern aus Australien und Vietnam reihen sich Fotos von Familienfeiern und Fotos von Janna und Johannes von früher. Ich bin beeindruckt wie manche Menschen in so einem jungen Alter die Welt schon bereist haben.

Johannes öffnet eine Tür am Absatz und lässt mich über die Schwelle hineintreten. Es ist normal großer Raum mit Bett, Schrank und Schreibtisch. Ein gemütlich aussehender Sessel steht in der Ecke und auf einem kleinen Ablagetisch daneben stapeln sich Reiseführer. Ich bin mir sicher, dass sie bevor ich gekommen bin die Wände neu gestrichen haben, den ein leichter Geruch von Farbe hängt noch in der Luft.

„Das wäre dann dein Zimmer, Nele", sagt er und stellt meine Tasche auf dem Bett ab.

„Du kannst es so gestalten wie du möchtest, natürlich. Wir haben auch noch ein paar Lichterketten unten, wenn du es heute schon gemütlicher haben möchtest, sonst wollten wir in den nächsten Wochen auch noch zu IKEA fahren, da findest du bestimmt auch ein paar Sachen, um es noch persönlicher einzurichten."

Mir fällt auf, dass die beiden doch etwas unsicher sind, was den Umgang mit mir betrifft. Ich frage mich, wie viel sie über meinen Hintergrund kennen und wenn ja, was.

„Vielen Dank, das geht erstmal so", meine ich ihm zugewandt, „Wirklich, vielen Dank, es ist perfekt."

„Das freut uns wirklich zu hören."

Wir stehen schweigend nebeneinander im Raum. Er unterbricht die unangenehme Stille, indem er sich wieder zur Tür wendet.

„Komm' einfach nach unten, wenn du soweit bist, es gibt Pizza."

Ich höre die gedämpften Schritte sich auf dem Teppichboden entfernen und drücke leise die Tür ins Schloss.

Ich gehe ans Fenster, das zur Straße hinführt und das warme Licht von Laternen hineinfallen lässt und drücke meine Stirn gegen die kalte Scheibe. Es wird bestimmt gut.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 05, 2023 ⏰

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