EINUNDDREIẞIG

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Nick hatte den Kopf auf meine Schulter gelegt. So saßen wir eine Weile auf dem Sofa. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er vor Erschöpfung einschlafen würde.

Keiner sagte ein Wort, aber das musste auch niemand. Es war dieser eine Moment, der ewig so weiter gehen konnte. Ausgenommen von meinem schlechten Gewissen, fühlte mich endlich wieder wohl neben Nick. Ich konnte ihm verzeihen.

Ein regelmäßiges Atmen war das einzige Geräusch, dass noch von ihm zu hören war. Vorsichtig fuhr ich mit den Fingern durch seine blonden Locken. Er war eingeschlafen.

~

»Hast du Jannik schon gefragt, ob er mir einen Anzug leihen kann?«, erkundigte sich Nick, nachdem er mir Kaffee gekocht hatte. Er selbst blieb lieber bei Wasser, was man ihm in seinem Zustand nicht verübeln konnte. Nun wirkte er zwar nicht mehr ganz so müde, aber er war immernoch ziemlich blass.

Nein, hatte ich noch nicht. Ich rührte mit dem Löffel in meiner Tasse herum und beobachtete, wie der Kaffee sich langsam mit der Milch vermischte.
Der Gedanke an meinen Bruder bereitete mir so schon Bauchschmerzen, denn irgendwie wurde er beim Thema Nick immer angespannter.
Wenn ich Jannik dann noch auf ihn ansprach, um zu fragen, ob er ihm etwas leihen würde? Mir steckte augenblicklich ein Kloß im Hals.

»Mira?« Nick warf mir einen besorgten Blick zu.
Ich räusperte mich. »Nein, aber ich frage ihn, wenn ich zuhause bin«, versicherte ich ihm.
»Danke«, Nick grinste. Ich lächelte und hoffte, dass er es mir nicht ansah, wie nervös ich war.

Im Kopf malte ich mir schon die unterschiedlichsten Szenarien aus.
Ich musste mich beruhigen. Jannik würde mir schon nicht den Kopf abreißen. Das könnte er gar nicht. Lieber würde er sich selbst etwas antun, als mir Schaden zuzufügen. Ich schluckte, ...oder Nick.

~

Eigentlich hatte ich versucht Nick abzuwimmeln, als er mich nach Hause begleiten wollte, aber er bestand darauf. Ich konnte ihn einfach nicht davon abbringen.
Jetzt bogen wir bereits in unseren Garten ein.

Warum hatte ich Nick nicht davon erzählt, wie merkwürdig sich Jannik verhielt? Warum hatte ich ihm nicht geraten, lieber zu Hause zu bleiben? Wenn mein Bruder Nick so sah...

Ich starrte auf Janniks Auto, dass in der Einfahrt parkte. Wir kamen unserer Haustür immer näher. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückspulen.
Noch nie war ich so nervös und hatte gleichzeitig so ein schlechtes Gewissen. Ich war diejenige, die Nick hätte warnen können und nun war ich diejenige, die ihn einfach blind ins offene Messer laufen ließ.

Plötzlich blieb ich stehen. Ich musste es ihm erzählen. Nick wandte sich mir zu.
»Ich wollte nur meinen Schlüssel suchen«, erklärte ich nervös lächelnd. Lüge.
Schnell zog ich ihn heraus und wir gingen, ohne dass ich ein weiteres Wort sagte, zur Tür. Dafür wird er mich hassen...

Ich drehte den Schlüssel im Schloss herum und öffnete vorsichtig die Tür. Innerlich betete ich dafür, dass mein Bruder nichts mitbekam. Unauffällig sah ich mich um. Keine Spur von Jannik.

Doch ehe wir im Eingangsbereich standen, hörte ich die Küchentür aufspringen. In diesem Moment fühlte es sich an, als würde mein Herz kurzzeitig aussetzten. Mein Bruder ging den Flur entlang. Als er uns sah, bog er in unsere Richtung ein. Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Oh. Mein. Gott.

Ich stand total neben mir. Es war fast so, als würde ich das ganze aus der Ferne beobachten.
Grob schob Jannik mich zur Seite. Widerwillig stolperte ich aus dem Weg und er drängte sich an mir vorbei, auf Nick zu.
Endlich schaffte ich es wieder ein bisschen Beherrschung über mich zu erlangen. Ich versuchte ihn am Pullover zu greifen und zurückzuziehen, aber ich griff ins Leere.
Als hätte mich diese Aktion meine gesamte Kraft gekostet, erstarrte ich wieder.
Ich hätte ihn warnen müssen...

Es kam mir vor, als würde sich alles in Zeitlupe bewegen.
Jannik kam ihm so nah, dass ich befürchte, gleich würde nichts mehr von ihm übrig bleiben. Er funkelte Nick böse an, der es ebenso nicht wagte, von der Stelle zu weichen.
»Was auch immer du getan hast, dass es ihr so schlecht ging, tu es nie wieder!«, zischte er.
Nick schluckte schwer.
Wie mein Bruder mit ihm redete, versetzte mir einen Stich ins Herz, denn ich wusste ich hätte es verhindern können.

Plötzlich verpasste Jannik ihm einen Stoß und Nick stolperte einige Schritte zurück.
»Hast du mich verstanden?!«
»Jannik!«, schrie ich fassungslos. Aber nur ein Blick von ihm ließ mich verstummen.

Unbeeindruckt zog mein Bruder weiter seine Show ab. Er schritt auf Nick zu, versuchte ihn in die Enge zu treiben.
»Hallo?! Kannst du noch reden? Oder hat es dem charmanten Typen die Sprache verschlagen? Ich verstehe echt nicht, was Mira an dir findet!«

Nun packte er ihn am T-Shirt und starrte ihm beinahe belustigt in die Augen.
»Ich meine, sieh dich an. Du kannst dich ja nicht einmal wehren!«, zog er ihn auf.

Das ging zu weit und ich dachte noch, es wäre alles nur Show. Ich hatte nie erwartet, soetwas aus Janniks Mund zu hören. Jetzt musste ich eingreifen.
Wenn er auch nur daran denkt, ihm etwas anzutun!
Von der Wut gesteuert griff ich nach Janniks Pullover und riss ihn mit aller Kraft zurück. Aber ich kam mir eher vor wie ein kleines Hündchen, das mühevoll versuchte sein Herrchen in eine andere Richtung zu ziehen. Es war zwecklos.

»Es reicht! Was ist eigentlich dein Problem?! Er hat weder mir noch dir etwas getan!«, fuhr ich meinen Bruder an. In meiner Stimme steckte so viel Aggressivität, dass sie mir beinahe fremd vorkam.
Wir hatten schon viele Auseinandersetzungen gehabt, was mir aber immer normal vorkam. Man stritt eben öfter mal mit seinen Geschwistern. Aber noch nie hatte ich meinen Bruder so angeschrien. Doch im Moment erschien mir das, als die einzig wirksame Lösung.

Und tatsächlich erreichte ich etwas damit. Er ließ Nick los und wandte sich zu mir.
»Achso, er hat dir nichts getan. Dann habe ich mir es nur eingebildet, als du eines Nachts total fertig auf dem kalten Fußboden geschlafen hast? Und zwei Tage danach standest du immernoch neben dir. Du kannst mir nichts vormachen!«, konterte Jannik und warf Nick einen kalten Blick zu. »Er ist nicht gut für dich, aber du bist zu naiv das einzusehen. Sieh ihn doch an.«
Ich starrte Jannik fassungslos an. Wie konnte er sowas behaupten? Er kannte Nick doch gar nicht. Na klar sah man ihm an, wie verkatert er war. Doch mein Bruder wusste nicht, dass ich der Grund dafür war. Ich hatte ihm gedroht, ihn weggejagt, ihm nicht geglaubt.

»Ob du mir nun traust oder nicht. Wir sind uns ähnlicher als du denkst«, machte sich Nick zum ersten Mal bemerkbar. Er begab sich vor mich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es wirkte, als versuchte er mich zu schützen. Er stand Jannik erneut gegenüber, aber nun weniger eingeschüchtert.
Mein Bruder stieß belustigt Luft aus und zog die Augenbrauen hoch, was mich noch wütender machte. Diese Situation war ganz und gar nicht witzig.
»Natürlich!« Der Unterton seiner Stimme klang ekelhaft. Was war nur in ihn gefahren?!

Nick ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Auch ich habe meinen jüngeren Bruder quasi selbst aufgezogen.« Nun verstand ich, worauf er hinaus wollte.
»Das ist nicht zu vergleichen! Unsere Mutter ist seit vier Jahren tot und unser ach so guter Vater lebt nur für seine Arbeit. Ich habe Mira seitdem aufgezo...«
»So stimmt das nicht«, fiel ich ihm ins Wort, worauf er zu mir herumfuhr. Jannik konnte es nicht leiden, wenn ich das tat, aber ich musste es erklären. Vielleicht hätte ich das schon viel früher machen sollen. Vielleicht wäre es dann nie so weit gekommen.
»Es ist sehr wohl zu vergleichen. Nicks Mutter ist schon vor elf Jahren verstorben, sein Vater ist verschwunden... und im Gegensatz zu dir, hatte er keine solche finanzielle Unterstützung. Er muss alles von seinem Ausbildungsgehalt zahlen und das reicht natürlich vorne und hinten nicht.«

Nun flackterte in Janniks Augen Unsicherheit auf. Nervös fuhr er sich durch die Haare, dann wandte er sich an Nick.
»Ich...«, er rang um Worte, »...Es tut mir leid. Ich hatte ja keine Ahnung... Ich weiß, dass das Ganze nicht so einfach zu entschuldigen ist. Wenn es irgendeinen Weg gibt, das irgendwie wieder gut zu machen, dann sag Bescheid.«
Nick winkte ab. »Schon okay.« Ich lächelte kopfschüttelnd. So war er eben.
»Also ich wüsste da etwas«, mischte ich mich ein.

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