SECHSUNDZWANZIG

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Und da war er wieder, der geliebte Prüfungsstress. Gleich am Montag stürzte ich mich quasi kopfüber ins Lernen. Mit meinem Perfektionismus trieb ich mich dabei fast in den Wahnsinn.
Es war klar, dass ich eigentlich das Meiste schon wusste, aber es saß noch nicht so, wie ich es gerne wollte. Am Freitag stand schon die erste Prüfung an. Die anderen lagen zum größten Teil in der nächsten Woche.
Der Abiball, der in nicht mehr ganz drei Wochen stattfand, schien im Angesicht der Prüfungen in unerreichbare Ferne zu rücken.

So verbrachte ich auch den Dienstag mit Lernen. Am späten Abend, es war bereits dunkel, klingelte es an der Tür und ich sprang auf.
Sofort wusste ich, wer mich da besuchte. Ich rannte förmlich die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Mit seinem üblichen Grinsen begrüßte mich Nick. Ich ließ ihn eintreten.

Die Tür fiel ins Schloss und ich ihm in die Arme, dann ließ ich ihn los und sah ihn forschend an. »Warum meldest du dich nicht bei mir?« Seit Sonntag hatte ich nichts von ihm gehört.
Er sah mich entschuldigend an. »Tut mir leid.«
Aufmunternd strich ich über seinen Arm. »Schön, dass du da bist. Wie komme ich zu der Ehre deines Besuches?«
»Ich hatte gerade erst Feierabend und war in der Gegend.«
»Achso?« Es war eine Frage. Nick hatte mir noch gar nicht erzählt, welche Ausbildung er machte.
»Ja.«
Ich sah ihn erwartungsvoll an, doch er machte keine weiteren Ausführungen. Warum erzählte er mir nichts?
Nun standen wir im Flur voreinander und sahen uns an. Ich schwieg. Er schwieg. Stille.

»Weißt du was?«, fragte mich Nick. Endlich sagte er wieder etwas.
»Was denn?«
»Ich habe nichts, was ich zu deinem Abiball anziehen kann.«
»Oh.« Okay, damit hatte ich nicht gerechnet. War es wirklich das, was er mir erzählen wollte?
»Ich könnte Jannik fragen. Er hat viele Anzüge, bestimmt auch irgendwo einen, der dir passt.«
Es stimmte. Mein Bruder besaß Anzüge in den unterschiedlichsten Ausführungen. So viele, dass ich wetten könnte, dass er einige davon noch nie getragen hatte.
Nick zuckte mit dem Schultern. Er schien nicht sonderlich begeistert zu sein. Vielleicht fiel es ihm auch nur schwer, diese Hilfe anzunehmen. Er wirkte so undurchdringlich.

»Nick? Alles in Ordnung?«
»Was? Ja, ich war nur kurz in Gedanken.«
»Das war wohl ein anstrengender Tag heute, oder?«, fragte ich.
»Warum?« Irgendetwas stimmte nicht.
»Naja, arbeiten bis abends ist bestimmt ganz schön kräftezehrend.«
Er nickte.
Zumindest etwas hatte ich aus ihm heraus bekommen, aber ich ahnte, dass das nicht alles war, was ihn so bedrückte. Ich umarmte ihn. Sofort umgab mich diese unbeschreibliche Wärme. Er schmiegte sich an mich.
Ich ließ ihn los. Einen winzigen Moment lang hoffte ich noch, dass er mir endlich erzählte, was wirklich los war. Aber meine Hoffnungen waren leider nichts weiter als das, Hoffnungen.
»Du solltest nach Hause gehen.«
Er nickte erneut und lächelte zustimmend. Gedankenverloren spielte ich mit einem Faden, der aus der Bauchtasche seines Pullovers hing. Eigentlich wollte ich ihn gar nicht gehen lassen, aber es war wohl besser so.

Ich wollte den Faden abreißen, der vermutlich von einer aufgegangenen Naht stammte und zog daran. Was dann zum Vorschein kam, machte mich fassungslos.
Wie entgeistert starrte ich auf die schwarze Stoffmaske in meinen Händen, dann zählte ich eins und eins zusammen. Erst jetzt fiel mir auf, dass er seine komplett schwarze Kleidung trug, die ich noch allzu gut kannte.
Mit einem Mal wurde mir alles klar. Er hatte vor, in das nächste Haus einzubrechen. Durch meine Naivität konnte er einfach weiterklauen. Nichts hatte ich unternommen. Ich hätte es vielleicht verhindern können, wenn ich doch nur gleich gehandelt hätte. Wer weiß, wie oft er mittlerweile schon eingebrochen ist? Hätte er doch einfach nur weiter geklaut, statt sich zusätzlich noch mein Vertrauen zu erschleichen!
Ich schmiss die Maske vor ihn auf den Boden. Es brodelte in mir. Wie konnte er nur?

Nick war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. »Ich kann dir das alles erklären. Es ist nicht so wie du denkst!«
Eine unzubändigende Wut stieg in mir auf. »Du hast recht. Es war alles nicht so, wie ich es gedacht hatte. Ich kann nicht fassen, wie naiv ich war.«
Er kam auf mich zu und versuchte mich irgendwie zu beruhigen. »Mira, ich...«
»Nein!« Ich wich zurück und entging gerade noch seiner Hand, die nach meiner griff.
»Es reicht! Du hast mich hintergangen und ausgenutzt. Ich habe dir vertraut. Wie bin ich nur auf so etwas hereingefallen?!« Energiegeladen fuhr ich mir durch die Haare.
»Bitte lass mich erklären.«
»Du hattest genügend Zeit, um mir alles zu erklären!«

Nick kam erneut einige Schritte näher und so wich ich wieder zurück. Diese Art von Tanz hatten wir schon einmal getanzt und ich hatte die Führung. Ich wusste genau, wie man ihn aufhalten konnte.
»Komm mir nicht zu nahe, verstanden?!« Und so blieb er stehen. Es war beinahe lächerlich. Nur zu schade, dass ich diesmal keinen Besen dabei hatte.
»Geh!«
Verzweifelt trat Nick auf der Stelle. »Aber ich habe nicht...«
Schnaubend schüttelte ich den Kopf. »Das soll ich dir nach dem Ganzen noch glauben. Nick, ich bin vielleicht naiv, aber nicht blöd. Ich sehe, welche Kleidung du trägst. Ich weiß was du vor hast!« Er sah mich flehend an.
»Diesmal meine ich es ernst. Verschwinde! Am besten tust du das, bevor ich die Polizei informiert habe.« Ich griff nach meinem Handy, entsperrte es und warf ihm einen kalten Blick zu.
»Mira!« Panisch versuchte er eine Lösung zu finden. Er war hin und her gerissen.
»Los, mach schon! Verschwinde!« Der Zorn brachte meine Stimme zum beben. Nichts konnte mich aufhalten. Ich tippte schon die 110 und im Augenwinkel sah ich, wie Nick das Haus verließ.

Doch kaum schlug die Tür hinter ihm zu, verlor ich die Kontrolle über mich selbst und brach zusammen. Meinen Plan konnte ich also streichen. In dieser Verfassung konnte ich kein Handy mehr bedienen.
Es fühlte sich an als hätte jemand den Boden unter meinen Füßen weggezogen und im Grunde genommen war es auch so. Weinend saß ich auf dem Boden des Empfangsbereiches, den Rücken an die kalte Wand gelehnt. Ein kaltes Stück Halt in der kalten Realität.
Irgendwann kamen keine Tränen mehr, nur noch ein regelmäßiges Schluchzen. Ich konnte allerdings noch immer nicht aufstehen. Ich war ausgelaugt, alle Kräfte waren am Ende.
Zitternd und schluchzend schlief ich ein. Zusammengekauert an der kalten Wand.

~

»Mira?« Jemand rüttelte an meiner Schulter. Es musste schon mindestens Mitternacht sein. Als wollte ich mich damit schützen, zog ich meine Knie enger an mich. Ich konnte nicht reden. Selbst wenn ich es tat, ich wäre sofort wieder in Tränen ausgebrochen.
»Mira!« Ich blickte auf. Es war Jannik.
»Was machst du hier?«
Ich holte stockend Luft. »Ich...Ich weiß auch nicht...«
Nun rollte die erste Träne meine Wange hinunter.
»Was ist passiert?«, fragte mein Bruder.
Ich schluchzte. Die Tränen rollten unaufhaltsam.
»Steh auf.« Er versuchte mich hoch zu ziehen.
Zitternd hiefte ich mich auf. Jannik nahm mich in den Arm und jetzt begann ich erst richtig zu weinen. Ich konnte mir selbst nicht erklären, was passiert war. Zu meinem Glück hielt mein Bruder es für klug, keine weiteren Fragen zu stellen. Diese hätten mir dann wohl endgültig den Rest gegeben.

Selbst als ich im Bett lag, hörte ich nicht auf zu zittern. Bis mich irgendwann die Müdigkeit packte und in ihren Bann riss.

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