SIEBENUNDZWANZIG

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Mit dem schrillen Piepen meines Weckers begann ein neuer Tag. Am liebsten wäre ich einfach liegen geblieben, um weiter in Selbstmitleid zu baden. Niemandem wollte ich begegnen. Keine einzige Frage nach meinem Befinden wollte ich hören. Nicht einen Gedanken wollte ich an ihn verschwenden.
Er war es nicht wert. Wegen ihm schmiss ich jetzt doch nicht einfach alles hin! Also raffte ich mich auf und schaffte es sogar zu frühstücken und rechtzeitig mit dem Rad loszufahren. Ich funktionierte noch, er konnte mich nicht kaputt machen.

Ich trat in die Pedalen. Das geichmäßige Klackern meines Rades hatte etwas Beruhigendes. Der Fahrtwind blies mir ins Gesicht, aber leider schaffte dieser es nicht meine Gedanken in die richtige Richtung zu lenken.
Wie konnte ich bloß jemanden vertrauen, den ich erst so wenige Wochen kenne? Mal im Ernst, wer würde sich in einen Einbrecher verlieben? Einfach lächerlich und unbeschreiblich naiv... Nein, Schluss jetzt!
Und so nahm ich mir vor, den einzigen Fokus auf die anstehenden Prüfungen zu legen und wer hätte gedacht, dass diese mich letztlich retten würden. Nach vorn schauen, nicht zurück! Vorerst klappte es auch ganz gut, bis ich auf dem Schulhof auf Abigail traf.

»Mira? Ist dein Handy kaputt? Ich habe dich heute morgen dreimal versucht zu erreichen. Du wolltest mir doch ein Foto von deinem Abiballkleid schicken«, informierte Abby mich, noch bevor ich vom Fahrrad abgestiegen war.
Nein, es war nicht kaputt. Ich hatte es gestern Abend ausgeschaltet, aus Angst vor Nachrichten von Nick und nun traute ich mich deshalb auch nicht, es wieder einzuschalten.
Ich stieg vom Fahrrad und drehte mich gleich meinem Rucksack zu, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen.
»Ja, es ist mir gestern heruntergefallen.« Es war erschreckend, wie schnell mir diese Lüge über die Lippen kam. Ich hatte meine beste Freundin belogen.
»Oh, Mist. Kann man es noch irgendwie reparieren?«
»Ich denke schon.«
Ziellos kramte ich in meinem Rucksack herum. Während ich versuchte, die aufsteigenden Tränen wegzublinzeln. Ich musste mich zusammen reißen und zwang mich zu einem Lächeln.

»Was ist los?«, fragte Abigail, nachdem ich mich ihr zugewandt hatte. Es hätte mir eigentlich klar sein müssen, dass ich ihr nichts vormachen konnte.
»Nicht so wichtig...« Ich schluckte und begab mich zum Schuleingang.
Abigail folgte mir und blieb hartnäckig. »Ich merke doch, dass es dir nicht gut geht. Es geht hier um dich, natürlich ist es wichtig!« Sie hielt mich auf und sah mir in die Augen.
Wieder musste ich blinzeln, aber es half nicht. Schnell wischte ich meine Tränen mit dem Ärmel weg.

Noch immer versuchte Abigail herauszufinden, was vorgefallen war. Nachdenklich starrte sie mich an.
»Kann ich dir das nicht später erklären?«, bat ich.
Ich wollte mich nicht damit auseinander setzen, aber sie schüttelte den Kopf. Für sie kam ein später überhaupt nicht in Frage.
Sie zog mich auf eine abgelegene Bank des Schulhofes. In meinem Magen entstand ein ungangenehm flaues Gefühl. Was und wie viel davon sollte ich ihr verraten?
Ich setzte mich und atmete tief durch. Dann schaute ich zu Abby, die mich fordernd ansah. Es gab keine Chance sich irgendwie aus dieser Situation zu befreien. Da musste ich jetzt durch.

»Ich... Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll.« Meine Stimme zitterte und klang seltsam fremd.
Abigail legte mir ihre Hand auf die Schulter. Immernoch war ich unsicher, was ich ihr erzählen sollte.
»Er hat mich...« Ich schluckte. »... hintergangen.« Und wieder rollten die Tränen über meine Wangen.
»Nick?«
»Ja«, hauchte ich mehr als das ich sprach.
Abigail schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber das kann ich überhaupt nicht verstehen. Ich glaube nicht, dass er so etwas machen würde. Was hat er denn...«
»Hat er aber!«, fiel ich ihr ins Wort. Man hörte die pure Verzweiflung aus mir sprechen.
»Bist du dir sicher? Vielleicht war es alles nur ein großes Missverständnis?«
Wie gerne hätte ich ihr geglaubt. Aber ich hielt die Maske in meinen eigenen Händen. Das war ein eindeutiger Beweis. Er wollte es wieder tun. Wer weiß, wie oft er es schon getan hatte und ich hatte ihm blind vertraut.
Ich konnte nicht antworten. Die Realität hatte mich schon wieder eingeholt. Ich weinte. Abby nahm mich in den Arm.
Noch eine Weile saßen wir auf der Bank bis ich mich endlich wieder beruhigt hatte. Ich war froh, dass Abigail nicht weiter nachgefragt hatte. Wahrscheinlich wollte sie mich nicht weiter belasten.

Nach vorn schauen, nicht zurück!, ermahnte ich mich selbst. Ich werde mich nicht unterkriegen lassen. Wegen ihm versaute ich mir nicht meine Prüfungen!
Mit dieser Einstellung hielt ich den Schultag aus. Ich fühlte mich zwar nicht sonderlich gut und Abby warf mir immer wieder besorgte Blicke zu. Aber es klappte alles, irgendwie.

Als mich die Schulklingel erlöste, trottete ich zu meinem Fahrrad.
»Mira, warte!« Abigail eilte hinter mir her. Ich blieb stehen und wandte mich zu ihr.
»Soll ich lieber mit dir nach Hause fahren?«
»Nein, alles gut«, ich lächelte kurz. Aber es war ein ehrliches Lächeln. Ich würde das schon irgendwie hinbekommen. Das Leben geht weiter.
Ich zog mein Rad aus dem Fahrradständer.
»Versuch dich irgendwie abzulenken, okay?«
Ich nickte. »Danke, bis morgen«, antwortete ich, während ich mich aufs Rad schwang.

~

Ich stellte mein Fahrrad unter das Vordach und war schon auf dem Weg zur Haustür, als ich mich noch einmal umdrehte. Das Vordach... Ich schaute nach oben. Er war einfach hinauf geklettert und... Nein! So versuchte ich heute schon zum x-ten Mal meine Gedanken in eine andere Richtung zu manövrieren.
Schwungvoll drehte ich mich zurück. Ich musste an einen Ort, der mich nicht an Nick erinnerte. Dann sah ich das Auto meines Bruders. Er war schon zuhause. Und so setzte ich, ins Haus gelangen, ohne von Jannik bemerkt zu werden, an die erste Stelle meines Planes. Er war der Letzte, mit dem ich jetzt über mein Befinden diskutieren wollte.

Ich öffnete die Tür und späte in den Flur. Keine Spur von meinem Bruder. Nun fehlte nur noch der zweite Teil meines Planes. Einen Ort finden, an dem ich nichts mit Nick verbinde.
Nachdem ich eine Weile regungslos im Flur verharrte, fiel mein Blick auf die Tür des Arbeitszimmers meines Vaters. Perfekt! Es hatte auch seine Vorteile, dass Dad nicht da war.

Also setzte ich mich zum Lernen an den Schreibtisch meines Vaters. Dieser Raum war gerade richtig. Es gab keine Ablenkung und ich konnte mich auf meine Prüfungen konzentrieren. Das klappte erstaunlicher Weise ganz gut.
Als ich etwas später bemerkte, dass Jannik in der geöffneten Tür stand, unterbrach ich meine Arbeit.
»Was machst du hier? Warum bist du nicht in deinem Zimmer?«
»Ich glaube jetzt weiß ich, warum Dad hier so viel Zeit verbringt. Man hat hier Ruhe.«
»Achso«, entgegnete er stirnrunzelnd. Das beantwortete wohl nicht seine Frage.
»Dann lass ich dich mal in Ruhe.« Er malte beim Reden Anführungszeichen in die Luft, dann verließ er das Zimmer. Ich atmete tief durch. Jannik hatte nichts bemerkt.

~

Als ich im Bett lag, kamen die Gedanken zurück. So lange hatte ich es geschafft, alles zu verdrängen und jetzt wälzte ich mich von einer Seite auf die andere.
Neben mir auf dem  Nachttisch lag mein Handy. Sollte ich es wieder einschalten? Ich starrte in die Dunkelheit. Nein, wenn ich es jetzt einschaltete, würde ich wohl die ganze Nacht kein Auge zu machen. Besser ich weiß von nichts. Beim Anblick von Nicks Nachrichten würde es noch schwerer werden, ihn zu vergessen.

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