NEUNUNDZWANZIG

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Verlegen wandte er den Blick ab. Da war sie wieder diese bedrückende Stille. Nick verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere.
»Ja«, hauchte er.
Im selben Moment rutschte ich an der Tür hinunter. Die Wodkaflasche, die ich noch immer in meiner Hand hatte, stellte ich neben mich.

Ich war am Boden zerstört. Er wollte es wirklich tun... Natürlich war es mir bereits bewusst, dennoch hielt ich irgendwie an der Hoffnung fest, dass alles nur ein großes Missverständnis war. Leider war es das aber nicht.
Ich fühlte mich, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Wieder einmal.
Schweigend schaute ich aus dem kleinen Fenster über dem Nachttisch, das nur spärliches Licht in den Raum warf.
...hätte ich die Maske nicht gefunden, wäre er tatsächlich wieder eingebrochen? Es war für mich beinahe unvorstellbar.

Nick wankte auf mich zu. Sofort zog ich meine Knie an mich, versuchte mich zu schützen vor... Ja, wovor eigentlich? Es war komisch. Noch vor zwei Tagen stand Nick mir so nah. Ich hätte meine Hand für ihn ins Feuer gelegt und jetzt?

Er setzte sich neben mich und lehnte seufzend den Kopf an die Tür. So saßen wir eine Weile vor der Tür.
Es herrschte Stille. Innerlich jedoch wurden die Vorwürfe gegen mich selbst immer lauter. Ich stand im Dialog mit mir selbst und war hin und her gerissen. Nur bei einem war ich mir sicher. Die Schuld an seinem aktuellen Zustand hatte ich. Es war für mich nicht auszuhalten ihn so zu sehen.
Verzweifelt griff ich nach der Wodkaflasche. Dieser Tag war nun sowieso gelaufen.

Bevor ich trinken konnte, zog Nick die Flasche weg. »Mach nicht den gleichen Mist wie ich. Außerdem hast du morgen Prüfung.«
Durch die kurzzeitige Berührung von ihm wurde ich plötzlich ganz nervös. Ich sprang auf. Er schaute mich fragend an. »Alles in Ordnung?«, fragte er, während er sich langsam aufrichtete.

»Ich kann nicht... Ich...« Unruhig stand ich vor ihm. Ich wusste gar nicht wohin mit mir. Ich wusste noch nicht einmal so genau, was überhaupt mit mir los war. Ich muss hier raus!
Als er auf mich zu kam, erkannte ich den nun frei gewordenen Fluchtweg. Eilig schlängelte ich mich an Nick vorbei und griff nach der Klinke.
»Ich... Ich glaube ich muss jetzt gehen.« Ich zog die Tür auf und stürmte panisch aus seinem Zimmer.
»Mira warte!« Doch das veranlasste mich nicht dazu, langsamer zu werden. Das Herz schlug mir bis zum Hals.

Der erschrockene Blick von Leon, der noch immer über seinen Aufgaben grübelte, versetzte mir einen Stich in die Brust. So schaffte ich es gerade noch die Wohnungstür zu schließen und schon sank ich auf die kalte Stufe vor ihr nieder.
Die Tränen liefen mir über die Wangen. Was war nur los mit mir?
Im selben Augenblick riss Nick auch schon die Tür auf. Sein Blick hellte sich auf, als er mich bemerkte.

»Du bist ja noch hier«, stellte er fest. Ich drehte mich zu ihm. Als ich sah, dass auch er Tränen in den Augen hatte, stand ich auf.
Nick versuchte noch seine Tränen wegzublinzeln, als ich ihn in eine Umarmung zog. Ich konnte gar nicht anders. Ich konnte nicht zulassen, dass er sich wegen mir so fühlte. Es tat weh ihn so zu sehen.
Fest drückte er mich an sich. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr mir das gefehlt hatte.
»Es tut mir so leid«, flüsterte Nick, worauf ich noch stärker begann zu weinen.
»Und mir erst«, schniefte ich an seiner Schulter.
»Dich trifft keine Schuld.«

»Willst du nicht noch ein bisschen bleiben?«, fragte Nick nach einer Weile.
Ich schüttelte verlegen den Kopf. Den heutigen Tag musste ich erst verarbeiten. Man sah den Schmerz in seinem Blick.
»Ich komme morgen nach der Prüfung vorbei, okay? Aber... ich will dann keine Bierflaschen mehr sehen.«
»Okay, versprochen.« Er grinste. Da war es wieder, dieses kribbelnde Gefühl von Wärme.
»Bis morgen!«, verabschiedete ich mich lächelnd.

~

»Wo warst du?«, fragte Jannik, als er mich hereinkommen sah. Er muss auch gerade erst von der Arbeit hier eingetroffen sein, denn er trug noch seine Jacke.
»Bei Nick.«
Beim Erklingen von seinem Namen zog mein Bruder die Augenbrauen hoch. »Ach, von dem habe ich ja lange nichts gehört. Sonst hast du andauernd von ihm geredet.«
Mist, fluchte ich innerlich, und ich dachte noch, er hätte nichts von dem, was zwischen uns vorgefallen ist, geahnt.
Ich zuckte mit den Schultern, als wüsste ich gar nicht, worauf er hinaus wollte.

»Alles gut zwischen euch?«, tastete er sich langsam voran.
»Ja, wieso?«, antwortete ich schnippisch.
»Weil du in letzter Zeit irgendwie verzweifelt warst. Da dachte ich, es könnte mit ihm zusammenhängen. Hat er irgendetwas angestellt?«
»Nick? Nein.«
»Aha«, entgegnete Jannik angespannt. An seinem Blick erkannte ich, dass er mir nicht glaubte.
»Ich besuche ihn morgen nach der Schule.«
Misstrauisch sah er mich an. »Hast du nicht morgen deine erste Prüfung?«
»Ja und danach gehe ich zu ihm. Ich sollte jetzt vielleicht besser nochmal in den Hefter schauen«, zog ich mich aus der Situation.

Während ich die Treppe zu meinem Zimmer hinauf stieg, ging mir der Blick meines Bruders nicht mehr aus dem Kopf. Galt das Misstrauen nun mir oder etwa Nick? Wie kam Jannik nur darauf, dass er für mein Verhalten verantwortlich war?
Sofort dachte ich wieder an das, was Abby über ihn erzählt hat. Was würde er nur mit Nick anstellen, wenn er schon einen Jungen, der nur mit mir zum Abiball gehen wollte, vom Hof jagte?
Angespannt biss ich auf meine Lippe. Hoffentlich galt es mir.

~

Am Abend klingelte mein Handy und ich legte endlich den Hefter weg.
»Hallo«, meldete ich mich.
»Hey!«, erklang die fröhliche Stimme von Abigail. »Ich wollte dich nur daran erinnern, endlich mit dem Lernen aufzuhören.« Ich musste lachen. Sie kannte mich zu gut.
»Wo ist die versteckte Kamera? Beobachtest du mich etwa?«, scherzte ich.
»Ja, ich sehe alles!« Abby kicherte in den Hörer. »Wie zum Beispiel, dass dein Handy wieder ganz ist. Gib es zu, es war gar nicht kaputt. Du kannst mir nichts vormachen!«
»Es tut mir soooo leid. Ich war verzweifelt und wusste mir nicht anders zu helfen.« Ich hatte es vor dem Lernen wieder eingeschaltet. Die entgangenen Nachrichten und Anrufe von Nick zu sehen, schmerzte sehr. Aber es war auch eine neue Nachricht dabei gewesen, in der er sich erkundigte, ob ich gut zuhause angekommen war.

»Schon okay. Es scheint ja wieder alles in Ordnung zwischen dir und Nick zu sein und die Hauptsache ist, du lachst wieder. Ich habe doch gleich gesagt, dass es nur ein Missverständnis war!« Sie klang überhaupt nicht sauer, obwohl ich ihr diese Lüge aufgetischt hatte.
»Ja«, so in der Art, fügte ich in Gedanken hinzu. Ihr Spürsinn war der Wahnsinn. Gab es überhaupt irgendetwas, was sie nicht wusste?
Wir telefonierten bestimmt noch eine halbe Stunde, bis sich Abby verabschiedete.

Als ich im Bett lag, hielten meine Gedanken mich wach. Es war ein Wunder, dass ich beim Lernen überhaupt noch etwas erreicht hatte. Ich drehte mich auf die andere Seite und starrte in die Dunkelheit. Irgendwann übermannte mich die Anstrengung des heutigen Tages und ich fiel in einen tiefen Schlaf.

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