ZEHN

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»Du musst ein Engel sein«, platzte es so plötzlich aus ihm heraus, dass ich fast vor Schreck zusammengezuckt wäre.
»Wie bitte?«, fragte ich etwas verwirrt. Was soll das denn jetzt? Er will doch nicht ernsthaft in dieser Situation mit mir flirten? Was denkt der sich eigentlich?
»Du musst ein Engel sein. Mira, hab' ich recht?« Er lächelte triumphierend. Das Entsetzen stand mir wahrscheinlich ins Gesicht geschrieben. Woher kennt er meinen Namen? Gerade habe ich ihm vertraut. Fast wäre ich auf ihn hereingefallen.

Erst jetzt merkte ich, wo er gerade hinschaute. Er hatte die Dose, die noch auf meinem Schrank stand, fest im Blick. Langsam dämmerte es mir. Das bunte Muster der Dose war einzigartig und er erkannte sie wieder.

»Leon ist dein Bruder?« Er wandte sich von der Dose ab und strahlte mich an. Warum war ich nicht früher darauf gekommen? Die blonden Locken, die leuchtend blauen Augen und besonders dieses Grinsen waren unverkennbar. Die ganze Zeit wunderte ich mich, dabei war es eindeutig. Neben mir saß Leons Bruder.
»Ja, ich bin Nick«, stellte er sich vor und überfiel mich mit einem Redeschwall. »Leon hat mir schon so viel von dir erzählt. Er schwärmt regelrecht von dir und ich kann es verstehen. Jedes Mal, wenn er Schwierigkeiten in der Schule hatte, konntest du ihm helfen. Du hast ihn an den Stellen unterstützt, bei denen ich ihm nicht zur Seite stehen konnte. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«
Ich spürte, wie meine Wangen anfingen zu glühen. »Das mache ich gern. Du brauchst dich nicht zu bedanken«, antwortete ich.
»Du bist ein Engel«, korrigierte sich Nick. Nun schoss mir das Blut noch schneller ins Gesicht.

Unerwartet zog er mich in eine Umarmung. »Danke«, flüsterte er. Kurzzeitig war ich wie gelähmt, dann erwiderte die Umarmung. Ein merkwürdiges Kribbeln entfachte sich in mir. Ich fragte mich weshalb, denn er war ja noch der Gleiche, der gestern Nacht in unser Haus eingestiegen war.

Aus dem Flur nahm ich ein bekanntes Pfeifen wahr und riss mich los. Diese Melodie pfiff Jannik andauernd. Ich sprang auf. »Los! Du musst verschwinden, bevor mein Bruder hier ist!«, schrie ich mehr, als dass ich flüsterte. Panisch zog ich ihn am Arm zum Fenster.
Nick bremste und sah mich zweifelnd an. »Er wird mir schon nicht den Kopf abreißen«, scherzte er.
Ich schüttelte den Kopf, es war keine Zeit für Witze. »Du kennst meinen Bruder nicht«, antwortete ich. Er grinste und schien meine Bemerkung nicht ernst zu nehmen.
»Er versucht mich schon ewig zu beschützen und hat sich deshalb schon mit einigen angelegt«, erklärte ich.

Das Beschützersyndrom von Jannik hatte manchmal dafür gesorgt, dass er ausrastete, wenn jemand einen anstößigen Kommentar über mich abgab. Er ging sogar auf einen seiner besten Freunde los.

Nicks Grinsen verschwand sofort, als es an meiner Zimmertür klopfte. Schnell kletterte er aus dem Fenster. Gerade rechtzeitig, denn schon öffnete mein Bruder die Tür.

Jannik trat in mein Zimmer. Als er mich vor dem geöffneten Fenster entdeckte, zeigte sein Blick Verwunderung. »Was machst du da?«
Wie ich es hasste, ihn anzulügen, aber bereitete mich darauf vor, es ein weiteres Mal zu tun. Ich atmete tief durch. »Ich wollte nur lüften, bevor ich ins Bett gehe.«
»Na so lange du nicht bei offenem Fenster schläfst.« Es war nicht wirklich ernst gemeint, doch sofort wurde ich aufgeregt. Ich schüttelte den Kopf. Die Nervosität hätte mich verraten, hätte ich geantwortet.
»Gute Nacht«, rief ich Jannik nach, als er ging.

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