ACHTUNDZWANZIG

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Der nächste Morgen war zu meinem Bedauern immer noch nicht einfacher als der vorherige. Gedanken konnte man eben nicht ausschalten.
Als ich das Haus verließ, war der Himmel von einem dunklen Grau bedeckt. Ein kalter Wind pfiff ums Haus. Was für ein Sommertag. Ich öffnete die Tür, die ich gerade hinter mir geschlossen hatte, um mir eine Jacke zu holen.

Da passte mich mein Bruder ab.
»Du willst doch heute nicht mit dem Fahrrad fahren? Es fängt jeden Moment an zu regnen. Ich bringe dich zur Schule«, sagte er in seinem bestimmenden Ton, den ich nur allzu gut kannte.
»Okay.« Ausnahmsweise machte ich keine Anstalten, mich über Janniks bevormundendes Verhalten aufzuregen, was ihn stutzig machte.
»Heute mal kein Kommentar? Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ich habe nur keine Lust bei diesem Wetter mit dem Fahrrad zu fahren«, wich ich ihm aus, während ich mir meine Jacke überwarf.

Ich sah schweigend aus dem Fenster und beobachtete die Häuser und Vorgärten, die an mir vorbei zogen.
»Er lässt sich morgen Abend mal wieder bei uns blicken«, sagte Jannik und unterbrach mein Schweigen.
Ruckartig riss ich den Kopf herum und schaute ihn mit geweiteten Augen an. Nick wagt es, sich einfach nochmal bei mir blickenzulassen?! Sofort schoss mein Puls in die Höhe.

»Bist du so entrüstet, weil du jetzt das Büro nicht mehr für dich hast?« Er konnte sich das Lachen kaum verkneifen, während er in Richtung Schule einbog.
Ach, unser Vater war gemeint. Wer sonst? Wie war ich auch darauf gekommen, dass Nick meinen Bruder kontaktieren würde? Erleichtert atmete ich auf, als wir vor dem Schulgelände zum Stehen kamen.
»An wen dachtest du denn gerade?«, fragte Jannik sichtlich belustigt.
Ich löste meinen Gurt. »Nicht so wichtig. Danke fürs Fahren«, antwortete ich und flüchtete aus dem Auto meines Bruders.

~

Der Schultag zog sich wie Kaugummi. Mit den Gedanken war ich kaum bei der Sache und wartete nur darauf, dass die Zeit verging. Meistens starrte ich aus dem Fenster und beobachtete, wie der Regen immer schwächer würde.
Als ich endlich die letzte Unterrichtsstunde hinter mich gebracht hatte, machte ich mich so schnell wie möglich auf den Weg nach Hause. Wäre ich heute morgen doch mit dem Fahrrad gefahren, hätte ich mir nicht nur das unangenehme Gespräch mit meinem Bruder gespart, sondern auch den Rückweg zu Fuß.
Ich machte gerade einen Bogen um eine riesige Pfütze, die sich auf dem Schulhof gebildet hatte, da packte mich jemand am Arm. Ich fuhr herum.

»Leon, hast du mich erschreckt!« Plötzlich schwamm ich im schlechten Gewissen.
»Oh nein! Das... tut mir leid! Ich habe dein Frühstück ganz vergessen!«, versuchte ich mich irgendwie zu retten.
»Nein, ist doch nicht so schlimm. Das ist nicht der Grund, warum ich mit dir Reden will.« Mir wurde plötzlich ganz komisch. Ich überlegte sogar, ob ich die Flucht ergreifen sollte.
»Was ist los?«
»In Mathe schreiben wir morgen eine Arbeit und ich verstehe das Thema einfach nicht. Eigentlich wollte Nick mir helfen, aber das wird wohl nichts...« Mir fiel ein Stein vom Herzen. Betreten schaute er zu Boden, als wäre es ihm peinlich. »Kannst du mir helfen?«
»Eigentlich habe ich selbst noch zu tun. Morgen habe ich meine erste Prüfung.«
»Bitte?«
Ich machte mich darauf gefasst, die Prüfungsvorbereitungen nach hinten zu schieben. Gestern war ich ja schon gut zurecht gekommen. »Okay, na gut. Dann komm doch gleich mit. Ich gehe heute sowieso zu Fuß.«
»Ich glaube das ist keine so gute Idee. Nick...« Leon unterbrach sich.

Nun beschlich mich ein merkwürdiges Gefühl. Irgendetwas muss da vorgefallen sein. »Was hat er gemacht?«
»Egal«, antwortete er knapp. Er konnte oder wollte mir nicht in die Augen schauen.
»Weißt du was? Ich komme mit zu euch«, beschloss ich.
»Brauchst du nicht. Vielleicht bekomme ich das irgendwie hin.« Warum hatte Leon seine Meinung so schnell geändert?
»Ich merke doch, dass da etwas nicht stimmt. Ich komme mit. So geht das nicht.«
»Na wenn du meinst...«

~

Den ganzen Weg über sagte keiner ein Wort. Meine Gedanken waren dafür umso lauter. Ich fragte mich, ob das wirklich eine gute Idee war, mich einfach in Nicks Wohnung einzuladen. Wie würde er reagieren?

Als wir eintraten, standen wir quasi schon im Mittelpunkt der Wohnung, in einer Art Wohn-Esszimmer mit offener Küche. Es war zwar um einiges kleiner, als ich es gewohnt war, aber trotzdem gemütlich und in warmen Holztönen eingerichtet.
Wir setzten uns an den Esstisch und Leon schlug seinen Hefter auf.
»Also, worum geht's?«
»Flächenberechnungen.«

Und so arbeiteten wir uns durch die unterschiedlichsten Formeln. Nach etwa einer halben Stunde sprang die Tür neben der Küche auf und Nick kam in den Raum. Ich traute meinen Augen kaum und auch er blieb wie erstarrt stehen.
Ich erhob mich. »Warte mal kurz«, flüsterte ich Leon zu. Den Blick starr auf Nicks Hand gerichtet. Leon war derjenige, der das kleinere Problem hatte.

»Was soll das?!«, schrie ich und entriss ihm die Wodkaflasche, von der zum Glück noch nicht viel fehlte. Was ist nur in ihn gefahren? Ich kämpfte mit aller Kraft dagegen an, meiner Wut nicht die Kontrolle zu überlassen.
Warum tat er das? Es schadete nicht nur ihm, sondern auch Leon, den er doch eigentlich immer schützen wollte. Wenn das Geld so schon knapp war, warum musste er es dann ausgerechnet auf diese Weise verprassen?

Nick war aus seiner Starre gefallen und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Er versuchte den Blick durch die offene Tür in das Zimmer zu verdecken, aber zu spät. Ich hatte bereits gesehen, was er mir nicht zeigen wollte.
Auf der Nachttisch neben dem Bett standen mehrere geleerte Bierflaschen.

»Hast du die alle...« Meine Stimme klang besorgt. Ich war nicht in der Lage diesen Satz zu beenden. Er nickte beschämt.
»Wir müssen reden«, sagte ich mit gebrochener Stimme und schob ihn rückwärts in das Zimmer, von dem ich vermutete, dass es seins war. Nick stolperte zurück, dann schloss ich die Tür hinter uns.

In meinen Augen stiegen Tränen auf. Ich versuchte sie weg zu blinzeln. Mir wurde bewusst, dass ich daran Schuld war. Nachdem ich Nick verjagt hatte, stürzte ich mich ins Lernen und er sich in... Nun rollten mir einzelne Tränen über die Wangen. Das Reden würde mir wohl schwer fallen.

»Es tut mir leid«, sagte Nick. Er kam auf mich zu, aber ich wich zurück und knallte mit dem Rücken gegen die Tür. Das geschieht dir zu Recht, redete ich mir ein.
Er blieb stehen. Betäubt vom Aufprall lehnte ich an der Tür und versuchte mich zu beruhigen. Kurzzeitig schloss ich die Augen und hörte auf mein etwas unregelmäßiges Atmen. Als ich die Augen wieder öffnete, stand Nick noch immer vor mir. Er schaute betroffen zu Boden. Die Schuldgefühle in mir waren wie riesige Steine. Es kam mir vor, als wogen sie Tonnen.

»Danke, dass du mich nicht bei der Polizei angeschwärzt hast«, unterbrach Nick die unangenehme Stille zwischen uns. 
Ich ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Ich ganz allein war für diese Situation verantwortlich. Die Schuldige war ich.
»Ich habe mein Versprechen gehalten«, fügte er hinzu. »Ich habe es nicht erneut getan. Ich bin nicht mehr... eingebrochen.«
Ich spürte einen Stich in meiner Brust. Das war mir schon fast klar gewesen. Ich hatte es ihm einfach angehängt, ohne auch nur einen Beweis dafür zu haben. Aber es gab etwas anderes, dass mich belastete.
»Wolltest du es wieder tun?«

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