ZWEI

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Ich parkte mein Fahrrad unter der schon leicht verrosteten Überdachung, die man hier Fahrradstellplatz nannte. Als ich gerade meinen Schulrucksack nahm, kam schon Abigail auf mich zu.
»Hey!«, begrüßte sie mich. »Und?«
»Was und?«
»Mit wem gehst du nun zum Abiball?«, fragte sie. Man konnte die Neugier in ihrer Stimme hören. Ich zuckte nur mit den Schultern. Im Gegensatz zu ihr hatte ich keinen Freund, der mit mir auf den Ball ging. Abigail und Mark waren so ein süßes Paar, wie aus einem Highschool-Romantikfilm entsprungen.
Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass sie über den Abiball sprach, denn sie redete nur davon, wenn es nicht gerade um die Vorbereitungen für ihr jährliches Krimidinner ging.
»Am Ende gehst du noch mit deinem Bruder auf den Abiball«, scherzte sie.
»Oh nein« Ich verdrehte die Augen. »Jannik wollte mich heute früh am liebsten zur Schule bringen, weil es nicht hell genug ist. Ich bin nur froh, dass ich ihn überzeugen konnte, dass Fahrradfahren bei dieser kurzen Strecke bis zur Schule ungefährlich ist.«
»Er macht sich eben Sorgen um dich«, entgegnete Abigail während sie in Richtung Schuleingang lief. Ich folgte ihr.
»Ja aber langsam habe ich genug. In seinen Augen bin ich noch immer seine kleine Schwester. Dass die nun achtzehn ist, hat er aber nicht mitbekommen.« Schwungvoll öffnete sie die Tür. Gemeinsam gingen wir den langen Schulflur entlang und so startete der erste Schultag der Woche.

~

In der Mittagspause wanderte ich etwas unentschlossen über den Schulhof. Abigail hatte schon mittags Schulschluss. Ohne sie fühlte ich mich oft etwas einsam. Da ich sonst wenig Zeit durch die Aushilfe in der Kantine hatte, war Abigail fast die Einzige, die mir als Freundin geblieben ist. Sie war diejenige, die den Kontakt aufrecht erhalten und unsere Freundschaft voran getrieben hat. Nun sind wir unzertrennlich. Natürlich besaß ich noch einige andere Freude, die aber Abigail nie ersetzen könnten. Sie war immer für mich da und unterstützte mich, auch wenn ich mich in die Schularbeit stürzte. Abigail sagte oft, ich solle mich auch um mich selbst kümmern, wenn ich total erschöpft von der Kantine kam.

Plötzlich entdeckte ich Leon, einen Fünftklässler, den ich, seitdem er dieses Jahr auf das Freital-Gymnasium kam, unterstützte. Er hatte es nie leicht gehabt, da er aus armen Verhältnissen stammte. Viel wusste ich aber nicht über seine Familie, nur dass das Geld manchmal nicht für Essen reichte. Ich kannte ihn schon aus der Bedürftigenkantine, wo ich ihn allerdings nur selten gesehen hatte. Seit die Kantine vor einem Monat geschlossen wurde, brachte ich ihm immer ein Pausenbrot mit. Den Schultag sollte er nicht ohne zu essen überstehen. Ich holte die Dose aus meinem Rucksack.
»Hallo, Leon! Wie war dein Wochenende?«, begrüßte ich ihn und hielt ihm die buntgemusterte Dose hin. »Ganz gut«, antwortete er. Als er die Dose nahm und öffnete, schaute er mich ungläubig an. »Das ist doch viel zu viel! Wie soll ich das denn alles essen?« Heute hatte ich etwas mehr hineingepackt. »Nimm die Dose einfach mit nach Hause und bring sie mir morgen wieder.«
»Ähm okay, …danke«, antwortete Leon noch etwas verunsichert, setzte aber sofort wieder sein Grinsen auf. Allein dafür hatte es sich gelohnt zeitiger aufzustehen, auch wenn es schwer fiel. Ich lächelte und verabschiedete mich.

~

In den darauf folgenden Tagen gewöhnte ich mich langsam daran, für Leons Brotdose früher aufzustehen. Ich selbst aß jeden Tag in der Schulcafeteria und brauchte kein Pausenbrot, stattdessen schlief ich lieber ein paar Minuten länger. Diese Umstellung nahm ich in Kauf, auch wenn es einen Monat gedauert hatte, mich daran zu gewöhnen. Das zeitige Aufstehen hatte nämlich einen weiteren Vorteil. Ich könnte morgens fast immer meinem Bruder aus dem Weg gehen und mir eine weitere Belehrung über die Gefährlichkeit von Fahrradfahren in Dunkelheit sparen.
Nach der Schule schrieb ich meist kurz mit Abigail, saß dann an meinen Hausaufgaben oder lernte bis abends. So verflog die Schulwoche ohne weitere Vorkommnisse.

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