Am nächsten Tag standen wir zu dritt vor Janniks riesigem Kleiderschrank. Ich wusste ja, dass mein Bruder viele Anzüge besaß, aber gerade fühlte ich mich wie bei einem Herrenausstatter. Sie hingen dicht an dicht und natürlich, nach Farbe sortiert. Schwarz, grau, hell- und dunkelblau. Er muss die Dinger ja gesammelt haben. Manche davon konnte ich mir an Jannik nicht einmal vorstellen. Zweifelnd warf ich einen Blick auf meinen Bruder.
Gestern hatte ich ihm vorgeschlagen, Nick einen Anzug zu leihen und er lud ihn, zu meinem Überraschen, direkt heute zur Anprobe ein. Er meinte, das wäre das Mindeste, was er tun könnte. Ich war ganz perplex von seinem plötzlichen Sinneswandel.
Als Nick abends wieder gegangen war, hatte sich Jannik etwas zerknirscht an mich gewandt. Er warf mir einen entschuldigenden Blick zu und versprach, sich zukünftig zurückzuhalten.
Ich konnte nur hoffen, dass er sich daran hielt, denn ich kannte meinen Bruder. Es würde ihm wohl ziemlich schwer fallen, wenn er weiterhin so verzweifelt versuchte, mich zu beschützen. Diesen Zwang versuchte ich ihm schon seit Ewigkeiten auszutreiben, denn bisher habe ich es immer ganz gut geschafft, mich selbst zu verteidigen. Ich hatte sogar eigenhändig einen Einbrecher vertrieben. Na gut, das zählte wohl nicht...Gerade als mein Bruder einen hellblauen Anzug hervorzog, erwachte ich aus meinem Tagtraum. Er schaute konzentriert zwischen Nick und dem Anzug hin und her, nur um ihn dann kopfschüttelnd zurückzuhängen.
Er schien voll in seinem Element zu sein, was mich nicht verwunderte. Jannik achtete schon immer sehr auf sein Aussehen. Er war regelrecht besessen von Mode, womit ich ihn schon oft aufgezogen hatte. Er trug und besaß Kleidung in den unterschiedlichsten Stilen. Momentan blieb er aber meist bei seiner Lederjacke.Nick hingegen war weniger begeistert von der ganzen Situation. Er sah mich verwirrt an. Sein Blick sprach Bände. Auch ich fragte mich, was mit dem Jannik von gestern passiert war und wonach er gerade suchte.
Jannik schob einen Anzug nach dem nächsten zur Seite und hielt dann inne.
»Moment. Ich glaube, ich weiß, wo er ist...«, murmelte er und schon war er aus dem Raum verschwunden.»Was hat er vor? Sollte ich besser verschwinden?«, scherzte Nick. Ich lächelte, aber eigentlich war mir gerade nicht nach Witzen zumute. Meine Anspannung bemerkte er sofort und sein Grinsen verschwand.
»Geht es dir gut?«
»Ja, schon... Ich habe so ein schlechtes Gewissen wegen gestern«, gestand ich. »Ich hätte dir sagen müssen, wie komisch er sich in letzter Zeit verhalten hat, sobald dein Name fiel. Ich hätte dich warnen müssen, vielleicht wäre es dann gar nicht erst so weit gekommen. Es tut mir so leid.« Ich schaute zu Boden.Nick legte mir die Hand auf die Schulter. Ich blickte auf.
»Hey, es geht mir gut. Es ist doch nichts Schlimmeres passiert. Außerdem wolltest du es verhindern. Du hast es sogar mehrfach versucht. Ich war derjenige, der sich nicht überreden lassen hat und dich unbedingt nach Hause bringen wollte.«
»Nick, das kannst du nicht machen.«
»Was meinst du?«, fragte er unsicher nach.
»Du kannst nicht für alles die Schuld auf dich nehmen.«
Auf seinem Gesicht erschien ein schiefes Grinsen. »Das sagt ja die Richtige. Du denkst doch immer, du wärst an allem schuld.«
Er zog mich zu sich heran und plötzlich erschien alles still um uns. Nicks Augen leuchteten, als gäbe es überhaupt keinen Grund mir böse zu sein. Vorsichtig fuhr er mit den Fingern durch meine Haare, dann berührten seine Lippen meine. Wärme floss durch meinen Körper. Endlich fühlte ich mich wieder lebendig. Viel zu lang war die Zeit ohne ihn gewesen. Eine Zeit, in der ich wohl einfach vergessen hatte, wie das Leben funktionierte. Die Stunden wollten einfach nicht vergehen...»Ich glaube Jannik hat die Flucht ergriffen oder sich verlaufen.« Ich musste über Nicks Feststellung grinsen, doch es stimmte. Er war noch nicht hier. Was machte er so lange?
»Freu dich nicht zu früh. Er wird bestimmt jeden Moment zur Tür herein kommen«, warnte ich Nick. Mein Kopf lag noch immer an seiner Schulter, seine Arme fest um mich geschlungem. Von mir aus konnte sich mein Bruder ruhig Zeit lassen.Wenige Augenblicke später öffnete sich auch schon die Tür. Jannik hielt seinen Fund triumphierend in die Höhe.
Erstaunt starrte ich auf den Anzug, der sich in einer durchsichtigen Folie befand. Er war in ein helles Grau getaucht, was mein Bruder höchstwahrscheinlich als zu schlicht empfand.
»Eigentlich wollte ich ihn wieder zurück schicken, aber vielleicht gefällt er ja dir. Ich brauche ihn nicht.« Er drückte Nick den Anzug in die Hand.
»Danke«, war das einzige Wort, was dieser heraus bekam.Die Frage, ob der Anzug passte, bestand eigentlich gar nicht, denn die beiden hatten genau die gleiche Größe. Dennoch probierte Nick ihn an und er saß, als wäre er extra für ihn angefertigt worden. Nick strahlte nun noch mehr als sonst, was eigentlich gar nicht möglich war.
»Der steht dir bald besser als mir«, gab Jannik zu. Er überraschte mich immer wieder mit seiner Einstellung. Er hatte von gestern zu heute quasi eine Hundertachtzig-Grad-Wendung hingelegt.
Ich zog Nick vor den Spiegel, der am Schrank hing. »Und? Was sagst du?«, fragte ich ihn. Bisher hatte er sich noch gar nicht zu dem Anzug geäußert. Schulterzuckend stand er davor. Sah Nick denn nicht das, was ich gerade sah? Fragend trat ich neben ihn und betrachtete unser Spiegelbild.
Plötzlich zog er mich in seine Arme und ein Grinsen erschien in seinem Gesicht. Mir entwich ein erschrecktes Quietschen.
»So ist es besser«, sagte Nick zu unserem Spiegelbild. Nun schlang auch ich die Arme um ihn und betrachtete uns. Wir zwei zusammen. So und nicht anders sollte es sein.~
»Was machst du heute Abend noch so?«, fragte Nick, bevor er sich auf den Weg nach Hause machte.
»Mit Abby telefonieren und danach noch lernen... Die nächsten zwei Wochen werde ich wohl damit verbringen.« Allein beim Gedanken daran, zog sich in mir alles zusammen.
Nick schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. »Du schaffst das schon.«
Ich seufzte. Von dem mulmigen Gefühl in meinem Bauch konnte ich mich bisher ganz gut ablenken, aber jetzt würde das wohl nicht mehr so gut klappen. Ich hatte begriffen, dass ich jetzt nicht mehr so viel Zeit zum Lernen hatte. In meinem Kopf drehte sich jeder Gedanke um die Prüfungen.
»Weißt du was? Ich komme jeden Abend vorbei und schaue wie es dir geht.« Wahrscheinlich befürchtete er, dass ich mich wieder überarbeiten würde.
»Das wäre schön.« Ich lächelte. So hätte ich wenigstens jemanden, der mich etwas von dem ganzen Stress ablenkte, den ich mir selbst machte. Denn auch Abby musste sich auf die anstehenden Prüfungen vorbereiten und hatte immer weniger Zeit für mich. Natürlich nahm ich ihr das nicht übel. Außerdem hatte ich ja jetzt Nick. Zwar würde er es nicht schaffen, unsere Freundschaft zu ersetzen, aber er war für mich da. Nach den Prüfungen würden Abigail und ich wieder mehr Zeit füreinander haben.
»Na dann, bis morgen.«
Ich umarmte ihn. »Bis morgen«, antwortete ich. Eigentlich wollte ich noch gar nicht, dass Nick ging, aber Leon wartete zuhause auf ihn. Er gab mir zum Abschied einen Kuss auf die Stirn.~
»Hey Abby!«, begrüßte ich sie, erst einige Sekunden nachdem mein Handy zu klingeln begann. Ich konnte nicht anders, als die Zeit bis sie anrief mit Lernen zu überbrücken. Alles andere erlaubte mir mein Gewissen nicht. Deshalb war ich noch gar nicht bei der Sache, als sie anrief.
»Hey! Wie war dein Samstag?«, erklang die fröhliche Stimme aus dem Hörer.
»Gut. Ich... ähm...«
Abigail kicherte. »Hab ich dich beim Lernen gestört?«
»Ertappt«, gab ich zu. »Nick war heute Nachmittag da. Ein Wunder, dass er sich überhaupt wieder hier her getraut hat.«
»Was ist passiert?« Und so erzählte ich ihr von Janniks angespannten Verhalten bis zu dem gestrigen Ereignis, was wir alle wohl nicht mehr so schnell vergessen würden.
»Er hat was?! ...Das hätte ich nie gedacht.« Sie klang entsetzt.
»Du hast schon richtig verstanden. Nachdem sich die Lage wieder beruhigt hatte, schien er von einem auf den anderen Moment wie ausgewechselt. Er hat sich sogar entschuldigt.«
»Wahnsinn! Und ich habe noch gehofft, dass die Geschichte mit dem Jungen, den Jannik vom Hof gejagt hatte nur ein Gerücht war.«
»Wer das wohl gewesen war?«, dachte ich laut.
»Glaub mir, ich habe alles versucht, dass Mark es mir erzählt. Aber keine Chance...« Abigail machte eine Pause.
»Okay, ich glaube ich sollte mich auch meinen Heftern zuwenden«, seufzte sie dann. »Bis Montag!«
»Viel Erfolg! Bis Montag!« Montag... Schon dieses Wort allein konnte einem das gesamte Wochenende kaputt machen.
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Fear Trust Love
RomanceMira steckt tief im Stress. In wenigen Wochen finden schon die Abiturprüfungen statt, also stürzt sie sich in stundenlanges Lernen. Kaum jemand bekommt sie außerhalb der Schule zu Gesicht. Doch ihr Leben ändert sich, als sie eines Nachts unerwartete...