DREIUNDREIẞIG

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Die nächsten Tage waren die mit Abstand anstrengensten Tage meines bisherigen Schulalltags. Nicht einmal in die Klausurenphase habe ich so viel Kraft gesteckt.
Dennoch hielt ich es ganz gut durch, was ich wohl hauptsächlich Nick zu verdanken hatte. Wieder und wieder erinnerte er mich daran, eine Pause einzulegen, bevor ich mich total verausgabt hatte.
Außerdem hielt er sein Wort. Seit Samstag war Nick jeden Abend hier gewesen. Jedes Mal fragte er wie es mir ging, denn mittlerweile wusste er genau, dass ich mir mit meiner Art zu lernen nicht gut tat. Durch meinen Perfektionismus hätte ich vermutlich täglich bis tief in die Nacht an meinen Schreibtisch gesessen. Solange bis irgendwann gar nichts mehr funktionieren würde.
Die Prüfungen, die ich geschrieben hatte, liefen ganz gut. Sie waren kräftezehrend, aber nicht unmöglich. Zumindest hatte ich die meisten erstmal hinter mich gebracht. Bis auf eine.

Der Wecker klingelte vermutlich schon eine ganze Weile. Endlich schaffte ich es, dieses nervige Geräusch zu beenden. Schlaftrunken richtete ich mich auf.
Ich fühlte mich, als liefe ich nur noch auf Sparflamme, was vermutlich an der Energie lag, die ich in den letzten Tagen verbraucht hatte. Ich rieb mir die Augen, während ich mich vom Bett erhob. Bald war diese Zeit vorbei.

Meine Nervosität spürte ich wie vor jeder Prüfung in meinem Magen. Verzweifelt rührte ich in meiner Schale herum. Ich musste mich zwingen zumindest diese kleine Portion Müsli zu essen, auch wenn ich es nur schlecht herunter bekam.
Es dauerte Ewigkeiten, bis ich endlich bereit war loszufahren. Die Zeit zog sich wie Kaugummi, was eine Zerreißprobe für meine Nerven darstellte. Eigentlich wollte ich nur noch so schnell wie möglich alles hinter mich bringen, aber so einfach war das leider nicht.

Kurz bevor ich mich auf mein Fahrrad setzen konnte, ertönte der Benachrichtigungston meines Handys gleich zweimal hintereinander. Zwei neue Nachrichten von Nick. Ich öffnete den Chat.
Guten Morgen! Auch ich drücke dir die Daumen für deine letzte Prüfung. Viele Grüße Patrick.
Etwas verwirrt starrte ich auf seine Nachricht. Erst als ich das Bild sah, das er hinterher geschickt hatte, begriff ich endlich und musste lachen. Das schaffte Nick immer wieder. Es tat gut zu lachen. Ein kurzer glücklicher Moment, in dem ich ausnahmsweise nicht an die Prüfung dachte.
Warum hatte er den blöden Klebeschnurrbart denn immernoch?! Grinsend schaute ich auf das Bild von dem blonden Jungen mit dem schwarzen Kunsthaar im Gesicht und tippte eine Antwort.
Sollte ich jemals herausfinden, wo du diesen Bart versteckst, hat sein letztes Stündlein geschlagen!
Natürlich war das nicht ernst gemeint. Vermutlich würde ich ihn als Erinnerung irgendwo aufbewahren. Sowas wirft man nicht einfach weg.

~

Ich legte den Prüfungsbogen auf den Lehrertisch. Es war eine ganz einfache Handlung, die sich wie ein Befreiungsschlag anfühlte. Nun hatte ich meine Freizeit, meine Freunde, ja eigentlich sogar mein ganzes Leben zurück.

Wie auch nach den letzten Prüfungen verließ ich zusammen mit Abigail das Schulgebäude.
»Riechst du das?«, fragte Abby.
»Nein, was denn?« Ich warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Das ist der süße Geruch der Freiheit! Mira, wir haben es geschafft!« Abigail sah mich freudestrahlend an. Ihre Überschwänglichkeit war ansteckend.
»Du hast recht. Es ist ein Wunder, dass wir überhaupt noch wissen, was Freiheit ist!«
»Zur Feier des Tages lade ich dich zu einem Krimi bei einer großen Tüte Popcorn ein«, schlug sie vor. Diesen Gefallen konnte ich ihr nicht ausschlagen. Zu lange war es schon her, dass wir gemeinsam einen Film geschaut hatten.

Gemeinsam radelten wir zu Abbys Haus. Sie gab ein ganz schönes Tempo vor, obwohl der Weg dorthin ziemlich kurz war. Eine solche physische Anstrengung war mein Körper gar nicht gewohnt. Aber dennoch fühlte es sich gut an, mal eine andere Richtung, als die nach Hause einzuschlagen. Der Fahrtwind nahm all den Stress, der nach und nach von mir abbröckelte, mit sich. Endlich konnte ich wieder an etwas anderes als die Prüfung denken.

~

Als der Ausruf, »Keine Bewegung!«, auch in diesem Krimi ertönte, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. So hatte alles angefangen. In dem Moment, als mir dieser Satz über die Lippen kam, hätte ich nie gedacht, dass sich die ganze Geschichte so entwickeln würde.
Damals kämpfte ich um mein Leben. Das glaubte ich zumindest. Aber anders als der Polizist aus dem Krimi hatte ich keine Pistole in meiner Hand, sondern einen Besen. Bei diesem Gedanken entwich mir ein amüsiertes Schnauben.
Abby warf mir einen verwirrten Blick zu. Sie verstand nicht, was an dieser Szene so lustig war, aber nur weil sie meine eigene nicht kannte. Das sollte auch so bleiben. Ich wollte Nick nicht schon wieder in Schwierigkeiten bringen.

Aber etwas konnte ich ihr zeigen. Ich holte mein Handy hervor und öffnete die Nachrichten, die mir Nick heute morgen geschickt hatte. Nun musste auch Abby lachen. Sie pausierte den Film.
»Vielleicht hätte ich den Bart in einer anderen Farbe besorgen sollen«, kicherte sie.
»Andauernd kommt er mit diesem hässlichen Teil an!«, beschwerte ich mich. Jetzt lachte sie noch lauter und auch ich stimmte mit ein.
»Als er mich fragte, ob er ihn mitnehmen könne, habe ich mich schon gewundert, was er damit vor tun wollte!« Abby konnte vor Lachen kaum noch aufrecht sitzen und auch ich spürte schon ein Ziehen in meinem Bauch. Diese Leichtigkeit hatte ich echt vermisst.

Nachdem der Film endete, verabschiedete ich mich von Abigail und machte mich auf den Weg nach Hause.

~

Summend lief ich durch mein Zimmer zum Fenster. Die Sonne stand schon tief. Draußen parkte gerade das Auto meines Vaters ein. Er war also wieder zu Hause. Wie lange er wohl diesmal blieb?
Ich stand noch eine Weile dort und sah aus dem Fenster. Es schien, als wäre da draußen plötzlich eine andere Welt. Alles war in ein warmes Orange getaucht.

Ich drehte mich um. Da stand er, mein Schulrucksack. Schnell verstaute ich ihn im Schrank. Endlich ein Abend, an dem ich das Ding nicht mehr sehen musste.
Dafür fiel mein Blick auf etwas anderes, mein Abiballkleid. Bald war es soweit. Ich konnte es kaum erwarten. Ich spielte mit dem Gedanken, es wenigstens nocheinmal anzuziehen, aber verwarf mein Vorhaben, als es klingelte. Ich sah auf die Uhr. Es konnte nur einer sein, der mich jetzt besuchte.

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