DREIẞIG

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Ich öffnete die Augen. Das Licht schimmerte bereits durch meine Vorhänge. Langsam drehte ich mich aus dem Bett. Mein Wecker hatte noch nicht geklingelt, aber im Angesicht der heutigen Prüfung konnte ich sowieso nicht mehr entspannt liegen bleiben.

Auf Socken betrat ich das Holzparkett unseres Flures und machte mich auf den Weg zum Badezimmer. Doch nach einigen Metern blieb ich abrupt stehen. Was war das? Es kam aus dem Erdgeschoss. Angespannt lauschte ich. Nicht schon wieder, ging es mir durch den Kopf.
Nun knarzte die Treppe und es lief mir eiskalt über den Rücken. Ich war wie erstarrt, unfähig mich zu bewegen, gefangen in mir selbst. Nicht noch einmal würde ich es schaffen, einen Einbrecher eigenhändig zu vertreiben. Nicht noch einmal würde ich ein solches Glück haben. Nicht noch einmal würde ich mit dem Schrecken davon kommen. Nicht noch einmal...

Da setzte er einen Fuß auf das selbe Holzparkett, auf dem ich noch immer verharrte. »Hallo Mira«, begrüßte er mich. »Ich wollte nur kurz ein paar Formulare holen, dann muss ich weiter.«
Etwas perplex starrte ich meinen Vater an. »Oh... okay«, stotterte ich, während er zügigen Schrittes an mir vorbei marschierte. Langsam setzte auch ich mich wieder in Bewegung. Das Blut rauschte noch immer in meinen Ohren. Nun war auch das letzte bisschen Müdigkeit in mir verfolgen.

~

Ich musste mich bemühen, nicht kopfschüttelnd das Haus zu verlassen. Was für ein Start in den Tag. Ich dachte schon, dass mich nach diesem Morgen nichts mehr erschrecken konnte. Aber falsch gedacht.
Als ich frühstückte, kam Jannik in die Küche, der sich erneut nach meinem heutigen Treffen mit Nick erkundigte. Er wirkte ziemlich angespannt und löcherte mich immer weiter mit Fragen, die mich ziemlich nervös machten. Irgendwann konnte ich es nicht mehr aushalten und verließ früher als sonst den Raum.
Ich hoffte nur, dass mein Bruder sich Nick gegenüber gut verhielt, wenn er mal wieder auf ihn traf. Langsam begann ich mir ernsthaft Sorgen zu machen.

Ich lenkte meine Gedanken wieder zur Prüfung und schwang mich auf mein Fahrrad. Die Nervosität stieg mit jedem Meter, dem ich der Schule näher kam.
Zumindest das Wetter zeigte sich heute von seiner besten Seite. Der Himmel war in ein wolkenloses Blau getaucht und die Sonne schien mir ins Gesicht.

Mein Handy piepste, als ich gerade vom Rad gestiegen war.
Viel Erfolg bei der Prüfung heute! Du schaffst das!, schrieb Nick. Sofort musste ich lächeln. Er glaubte an mich und hatte es nicht vergessen. Weder mein Vater noch Jannik hatten daran gedacht, mir Glück zu wünschen. Sie hatten beide anderes im Sinn.

»Hey Mira!« Mein Kopf schnellte nach oben und ich schob das Handy zurück in den Rucksack.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen wie aufgeregt ich bin. Ich konnte gestern ewig nicht einschlafen«, erzählte mir Abby und fuhr sich nervös durch die Haare.
»Oh doch, das kann ich mir durchaus vorstellen. So ging es mir schon vor über einer Woche. Aber heute habe ich erstaunlicher Weise gut geschlafen.«
»Erstaunlicher Weise«, ahmte Abigail mich nach.
»Ja, erstaunlicher Weise«, wiederholte ich. Sie grinste mich an.
»Was ist so lustig?«
»Ich glaube nicht, dass dein erholsamer Schlaf ein Zufall war«, antwortete sie noch immer grinsend.
Fragend sah ich sie an. Ich verstand nicht, worauf sie hinaus wollte.
»Es hat doch bestimmt etwas mit einem gewissen Nick zu tun?«
Ich lächelte kopfschüttelnd. Augenblicklich spürte ich, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss. Wahrscheinlich hatte mein Gesicht schon die Farbe einer Tomate angenommen. Verlegen wendete ich den Blick ab. »Du spinnst!«
Trotzdem bemerkte ich ihren triumphierenden Blick. Natürlich wusste Abigail, wie es mir ging. Das sah sie mir an.

»Na dann...«, seufzte ich nach einer Weile. In Gedanken waren wir beide wohl schon bei der Prüfung, denn auch Abby gab ein Seufzen von sich.
»Lass uns in den Tag starten«, beendete sie meinen Satz.

~

Zu zweit verließen wir seufzend das Schulgebäude, wie wir es auch schon betreten hatten.
Nach der Prüfung tat es gut mal wieder durchzuatmen. Zu groß war die Erleichterung jedoch nicht, denn das Ende der ersten Prüfung hieß noch lange nicht, dass es jetzt entspannter wurde. Ganz im Gegenteil, der größte Teil lag noch vor uns.
Zufrieden schwang ich mich auf mein Fahrrad. Nun war dieser Schultag endlich beendet und ich freute mich auf den Nachmittag. Zugegebenermaßen tat ich das schon den ganzen Tag.

»Wo geht's denn hin?«, fragte Abigail, als sie bemerkte, dass ich mich mit meinem Rad eine andere Richtung begab.
»Zu Nick«, antwortete ich und gleich stieg auch die Wärme in mir auf.
»Viel Spaß!« Grinsend sah sie mich an und radelte dann in die entgegengesetzte Richtung.
»Danke! Bis Montag!«, rief ich ihr hinterher.

~

Gerade wollte ich klingeln, da öffnete sich auch schon die Wohnungstür.
»Ich habe mir schon Sorgen gemacht und dachte du kommst nicht mehr.« Nick stand verlegen auf der Türschwelle.
Auf den Weg hierher hatte ich mir etwas Zeit gelassen, um den strahlenden Sonnenschein zu genießen. Außerdem hatte ich jetzt nach der Prüfung wenigstens etwas den Kopf frei. Das genoss ich, bevor mir die nächste Prüfung auf den Magen schlug.
Ich zog die Augenbrauen hoch. Das Sich-Sorgen-machen kannte ich eigentlich nur von Jannik. Ich hatte es immer als nervig empfunden, aber von Nick war das schon irgendwie süß.
Ich umarmte ihn und gleich empfing mich diese Wärme. Er drückte mich so fest, dass es mir vorkam, als wollte er mich gar nicht mehr loslassen.
Wie konnte ich ihm sowas nur antun?, schoss es mir immer wieder durch den Kopf. Diese Vorwürfe würden mich wohl noch eine Weile begleiten.

Irgendwann hatte er sich dann doch wieder von mir gelöst.
Nick hielt mir die Tür auf, während er verkrampft gegen die Helligkeit ankämpfte. Schade, dass er das Wetter nicht genießen konnte. Der Alkohol hatte wohl seine Spuren hinterlassen. Er war ganz blass und dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Hatte er in letzter Zeit überhaupt geschlafen?
Sofort war es wieder da, mein schlechtes Gewissen. Es war alles meine Schuld. Ich schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln, als ich an ihm vorbei in die Wohnung trat.

Heute hatte ich endlich die Ruhe, mich genauer umzusehen. Es kam mir alles viel schöner vor als gestern, denn da überforderte mich das neue Umfeld noch etwas. Schuld daran war wahrscheinlich mein emotionaler Zustand, der alles ins negative gezogen hatte.
Außerdem hatte Nick sein Wort gehalten. Er hatte aufgeräumt. Sogar das Geschirr, das gestern noch in der Spüle stand, war verschwunden.

Nun sah ich alles mit ganz anderen Augen. Ich erkannte die Dinge, die eine Wohnung zu einem Zuhause machten. Es waren Kleinigkeiten, aber wenn man sie entdeckte, fühlte man sich gleich viel wohler.
Gedankenverloren wandelte ich vor dem Regal umher. Darin standen die verschiedensten Bilder. Neben dem einen, aus dem mich zwei blonde Lockenköpfe mit beinahe dem gleichen Grinsen ansahen, stand ein anderes Bild in einem schon etwas abgegriffenem Rahmen. Es zeigte eine junge Frau. Selbst auf diesem Bild umgab sie eine warme, herzliche Aura. Sie hatte Augen, die ihr gesamtes Gesicht zum Strahlen brachten. Augen, die denen von Nick sehr ähnlich waren.
Es war eindeutig, dieses Bild zeigte seine Mutter. Sie musste ein wundervoller Mensch gewesen sein, den man nicht einfach vergessen konnte. Schade, dass Leon sie nicht kennenlernen konnte.

Plötzlich packte mich jemand und zog mich zurück. Ich zuckte zusammen und mir entfuhr ein Schrei. Das Herz klopfte mir sofort bis zum Hals.
Nick musste lachen. Er legte von hinten beide Arme um mich. Ich atmete tief durch. So viel zum Thema heute konnte mich nichts mehr erschrecken.
»Entschuldige«, flüsterte Nick, als ich mich mit dem Rücken an ihn lehnte.

Augenblicklich riss jemand die Tür zum Wohn-Esszimmer auf. Verwirrt ließ Nick mich wieder los. Es war Leon, der sich ganz erschrocken umsah, bis er uns entdeckte.
»Geht es dir gut?«, fragte er mich, dann musterte Leon mich von oben bis unten, als wollte er herausfinden, was mir fehlte.
»Ja, alles in Ordnung« Nun musste ich lachen. »Ich habe mich nur gerade ziemlich erschreckt«, fügte ich hinzu und warf einen anklagenden Blick in Nicks Richtung, der natürlich nicht ernst gemeint war. Er legte einen Arm um mich, worauf er von seinem jüngeren Bruder eine vielsagendes Grinsen erntete.

Da Leon feststellte, dass alles okay war, verzog er sich wieder in sein Zimmer. Nick und ich setzten uns auf das kleine Zweisitzer-Sofa.
Ich stellte fest, dass es stimmte. Es war wieder alles okay.

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