Ich ließ die Hand eine Weile reglos am Griff verharren und haderte mit mir. Soll ich oder soll ich nicht?, überlegte ich. Meine Leichtsinnigkeit übernahm die Oberhand und so öffnete ich, ohne noch ein weiteres Mal darüber nachzudenken, das Fenster.
Sichtlich verwirrt blieb er auf dem Fensterbrett.
»Ich dachte, du wolltest mit mir reden«, sagte ich und verdeutlichte ihm mit einer Armbewegung, dass er hereinkommen sollte. Er sprang in mein Zimmer.Ich ließ mich auf mein Bett plumpsen. Er stand vor mir und schien sich noch unsicher zu sein, ob er sich neben mich setzen sollte. »Keine Angst, den Besen habe ich weggeräumt. Ich bin unbewaffnet.«, erklärte ich ihm, rückte ein Stück bei Seite und klopfte neben mich aufs Bett.
Ich musste das Lachen unterdrücken, als ich an meine merkwürdige Vertreibungsaktion von gestern dachte. Auch er musste beim Gedanken daran Grinsen, dann setzte er sich neben mich.Warum kommt er mir plötzlich so bekannt vor? Kenne ich ihn?, flog es mir wieder durch den Kopf. Etwas unterbrach mein Gedankenkarussell. War das ein Knurren?
»Bist du hungrig?«, fragte ich. Er schüttelte hastig den Kopf, doch das erneute Brummen aus seinem Magen verriet ihn.
»Hast du heute überhaupt schon etwas gegessen?«
»Ja, aber nur frühs. Mittags hatten wir nur noch einen Rest von gestern und den habe ich lieber meinem Bruder gelassen«, gestand er.Schnell holte ich die Keksschüssel vom Schreibtisch und drückte sie ihm in die Hände. »Hier das ist alles, was ich dir gerade anbieten kann.« Er lächelte dankbar.
Ich machte mir langsam mehr Sorgen um ihn, als ich mich vor ihm fürchtete. Was war er für ein Typ? Und vor allem wer war er? Ich konnte ihn nicht einschätzen und das machte mir zu schaffen.»Wie oft hast du das schon gemacht?«, beendete ich mein nachdenkliches Schweigen.
»Wie meinst du das?« Sichtlich irritiert sah er mich an und biss in einen Keks.
»Wie oft hast du schon für deinen Bruder aufs Essen verzichtet?«, verbesserte ich mich.
»Naja, schon ein paar Mal. Meist habe ich ihm erzählt, dass ich bereits auf Arbeit gegessen habe.«
Nun erinnerte er mich an meinen Bruder, der das in dieser Situation wahrscheinlich auch für mich getan hätte. Zumal ich ihn mit dieser Erklärung durchschauen würde.
»Weiß dein Bruder von...« Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich bin mir sicher, dass er, wenn er es wüsste, ziemlich verletzt sein würde. Er soll nicht von noch jemanden enttäuscht werden.«
»Von noch jemanden?«, wiederholte ich.
»Ja. Nachdem unsere Mutter bei seiner Geburt verstorben ist, war unser Vater sein Ein und Alles. Aber seit ein paar Jahren verschwand er immer wieder für einige Wochen und kam dann wieder, als wäre nichts gewesen. Jetzt ist er schon seit fast einem Jahr fort. Er denkt, dass er irgendwann wieder kommt, aber das glaube ich nicht. Mit jedem Tag steigt seine Enttäuschung.«
»Das tut mir leid. Es muss eine schwere Zeit für euch sein.« Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, dann zog ich sie zurück. Was tue ich hier gerade?!Betreten blickte er zu Boden. Er hatte eine ganz ähnliche Familiengeschichte wie ich. Er musste das Gefühl haben, dass niemand ihn versteht, doch ich tat es.
»Das kenne ich gut. Meine Mutter kam vor vier Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Der Fahrer eines LKWs hatte ihr die Vorfahrt genommen und ihr Auto gerast. Seitdem hat mein Vater nur noch die Arbeit im Kopf und ist eigentlich nie zuhause. Mein Bruder hat sich um mich gekümmert.« Es war schon erschreckend, wie viel Ähnliches wir durchgemacht hatten.
»Oh... Mir tut es auch leid.«Wir gerieten in ein Schweigen, das allerdings alles andere als unangenehm war. Scheinbar stellten wir beide fest, dass wir gar nicht so unterschiedlich waren. In diesem Moment fühlte es sich an, als hätten wir diese Schicksalsschläge gemeinsam überstanden.
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Fear Trust Love
RomanceMira steckt tief im Stress. In wenigen Wochen finden schon die Abiturprüfungen statt, also stürzt sie sich in stundenlanges Lernen. Kaum jemand bekommt sie außerhalb der Schule zu Gesicht. Doch ihr Leben ändert sich, als sie eines Nachts unerwartete...