EINS

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Ich lag schon den gesamten Vormittag auf dem Bett und tippte gedankenverloren auf meinem Handy herum. Erst nachdem Abigail mir von ihrem Abiballkleid vorschwärmte, wurde mir bewusst, dass dieser schon in sechs Wochen ist.
Alle um mich herum hatten schon seit Ewigkeiten verschiedene Vorbereitungen getroffen und sogar Tanzstunden genommen. Doch mir fehlte es schon an der Begleitung. Das lag wahrscheinlich daran, dass ich mich so sehr ins soziale Engagement und den Lernstoff gestürzt habe, dass man mich kaum zu Gesicht bekam. So war ich natürlich auch nicht auf die Idee gekommen, die Suche nach einem Tanzpartner selbst in die Hand zu nehmen. Nun hatte schon jeder Zwölftklässler unseres Gymnasiums seinen Partner und die perfekten Kleider.

Seufzend erhob ich mich vom Bett, damit ich nicht weiter unproduktiv herumlag und schnappte mir mein Putzzeug. Das half mir schon immer beim Nachdenken, also begann ich mein Zimmer zu putzen, als wolle ich es auf Hochglanz polieren.
Nachdem ich mein Werk vollbracht hatte, drehte ich mich noch einmal prüfend und räumte den Eimer wieder in den Besenschrank.

~

Ich ging die Treppe hinunter und setzte mich auf das Sofa im Eingangsbereich, wie ich es schon früher getan hatte, als ich darauf wartete, dass meine Mutter von der Arbeit nach Hause kam. Jedes Mal, wenn sie mich hier sitzen sah, schenkte sie mir eines ihrer herzlichen Lächeln und fragte mich über meinen Tag aus.
»Ach Mira«, meinte sie manchmal, »Du bist mir so ähnlich.« Darauf nahm sie mich in den Arm.
Ich starrte nach draußen. Das würde nicht mehr passieren. Jetzt, wo sie schon etwa vier Jahre tot war.

Nach Mum's Autounfall, bei dem sie ihr Leben verlor, hatte sich unseres drastisch geändert. Mein Vater stürzte sich seitdem in die Arbeit und war kaum noch zu Hause.
Mein älterer Bruder Jannik, der damals gerade erst achtzehn war, sah seine Verantwortung darin, auf mich aufzupassen. Auch jetzt versuchte er noch, mich vor allem Bösen zu bewahren.
In den letzten Jahren hatte sich sein Beschützerinstinkt sogar noch verstärkt. Er erlaubte mir nicht ein einziges Mal allein im Dunkeln mit der Straßenbahn zu fahren, also wurde ich von ihm persönlich gebracht, auch wenn der Weg noch so kurz war. Er schien manchmal zu vergessen, dass ich mit meinen achtzehn Jahren alt genug war, um auf mich selbst aufzupassen.

So wie sich das Leben meines Bruders und meines Vaters durch den Tod meiner Mutter gewendet hatte, tat es auch meines. Ich ging seitdem regelmäßig zur Kantine, in der Mum nach der Arbeit für Bedürftige kochte, um auszuhelfen. Als sie vor einem knappen Monat aus finanziellen Gründen geschlossen wurde, ging es mir schlecht, denn es fühlte sich an, als würde ich meiner Mutter helfen. Die Kantine war die einzige Verbindung, die ich noch zu Mum hatte.

Um mich abzulenken, hing ich mich in den Lernstoff für die Prüfungen. Das klappte mal besser und mal schlechter. Manchmal wanderten meine Gedanken in jeder freien Minute zurück zur Kantine und somit auch zurück zu meiner Mutter.

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