ZWEIUNDZWANZIG

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Nachdem ich alle Informationen zu meiner Figur Lucy eingeprägt hatte, war ich zufrieden mit dieser Rolle. Abigail hatte sich mal wieder selbst übertroffen.
Soweit es aus meiner Charakterkarte hervorging, hatte ich einen Partner Dave, mit dem ich allerdings alles andere als eine glückliche Beziehung führte. Ich ertappte mich kurzzeitig bei dem Gedanken, dass Nick ihn vielleicht verkörperte, schüttelte ihn aber schnell wieder ab und konzentrierte mich auf meine Figur.

Lucy schien ein Opfer von häuslicher Gewalt zu sein, was zumindest den Verband an meinem linken Arm erklärte. Mit Dave, der seine Wutausbrüche immer an ihr aus ließ, war sie zu einem Dinner bei einer benachbarten Familie eingeladen.
Ich las die Handlungsanweisungen auf der Rückseite der Karte. Gut, das würde ich hinbekommen. Es gab da nur einen Satz, der mich etwas irritierte. Sie ist sehr erfreut, als sie beim Dinner auf Patrick trifft, mit dem sie sich schon immer gut verstanden hatte. Was sollte das denn heißen? Mich beschlich das Gefühl, dass Abigail etwas plante, wovon ich nicht die geringste Ahnung hatte. Was führte sie nur im Schilde?

~

Nach und nach waren alle eingetroffen. Auf dem Barhocker, der neben meinen stand, saß Emily, die ebenso konzentriert auf ihre Karte starrte, wie ich es noch wenige Minuten zuvor getan hatte. Sie war Abbys Cousine und ich kannte sie bereits von den letzten Krimidinnern.
Ich schaute zu Abigail, die quer durch alle Räume eilte und die letzten Vorbereitungen traf, dann wandte ich mich wieder Lucy zu. Noch hatte ich etwas Zeit, um mich vorzubereiten.

Eine Weile später tauchte Abby wieder auf und holte Emily ins Esszimmer. Ich vermutete, dass sie die Gastgeberin Cathrine war und deshalb vor mir hinein durfte.
Wie gebannt schaute ich in Richtung Esszimmer und versuchte meine plötzlich auftretende Aufregung in den Griff zu bekommen. Tief atmete ich durch und einige Sekunden später steckte Abby den Kopf herein.
»Jetzt ist dein Auftritt«, sagte sie und zwinkerte mir zu. Ich lächelte, war aber noch immer etwas nervös.
Jegliche Aufregung verflog, als ich gemeinsam mit Dennis, der Dave verkörperte, den Raum betrat. Ich war etwas enttäuscht, dass es nicht Nick war, aber es war in Ordnung. Auch wenn ich mich durch seine übertriebene Selbstsicherheit immer ein bisschen eingeschüchtert fühlte. Er ging in meine Parallelklasse und war schon ein paar Mal beim Krimidinner dabei. Er war ein Kumpel von Mark und wie Abby ein Krimifan.

~

Herzlich wurden wir von dem Gastgeberpaar empfangen und setzten uns an die mit einem Namensschild entsprechend gekennzeichneten Plätze. Wie ich es vermutet hatte, spielte Emily Cathrine und ich war überrascht, dass Mark in die Rolle ihres Partners Marco schlüpfte.
Der Raum wirkte ganz edel im Kerzenlicht des Leuchters, der mittig auf dem ovalen Tisch neben den Blumengestecken stand.

Als Patrick durch die Tür trat, konnte ich mir nur mit Mühe das Lachen verkneifen. Erst fand Nick allein der Gedanken an Kostüme ätzend, jetzt trug er eine Schiebermütze, die ihm zugegebenermaßen echt gut stand und einen lächerlichen schwarzen Schnurrbart, der überhaupt nicht zu seinen blonden Haaren passte. Warum hatte er sich nur dazu überreden lassen? Und wer hatte ihn überzeugt? Nick tat mir fast schon leid mit diesem albernen Klebeschnurrbart.

Alle standen auf und begrüßten den soeben Eingetroffenen. Um Lucys Wiedersehensfreude auszudrücken, umarmte ich ihn, woraufhin ich mir einen bösen Blick von Dave einfing, der mich kurzzeitig wirklich in Schrecken versetzte. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Das ist ja der Wahnsinn, ging es mir durch den Kopf. Man hätte denken können, Dennis meinte es wirklich ernst und spielte es nicht nur.
Am Handgelenk zog er mich weg von Patrick und somit auch weg von Nick, zurück an den Tisch.

Abby begann mit der Moderation, als alle wieder am Tisch saßen. Sie stellte zuerst die Charaktere vor und gab einige Hinweise zu ihnen, damit jeder gut zurecht kam und alle auf dem gleichen Informationsstand waren. »... Da nun alle Gäste eingetroffen sind, kann das Dinner beginnen.«

Sie übergab das Wort somit an die Gastgeber, die sich zuerst bei ihren Gästen fürs Erscheinen bedankten, dann holten sie gemeinsam das Abendessen aus der offenen Küche. Sie servierten Ente mit Rotkohl und Klößen, ein traditionelles Gericht. Es duftete herrlich nach Braten und Nelken.
Cathrine und Marco begannen darüber zu diskutieren, ob sie nicht besser Kartoffeln hätten zubereiten sollen, da es sein konnte, dass nicht jeder Klöße mochte. Gespannt verfolgte ich das Gespräch und versuchte weitere Informationen zu sammeln, die eventuell später nützlich sein konnten.

»Wie geht es dir? Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen«, erkundigte sich Patrick, während die Gastgeber noch weiter um das Essen stritten.
Ich grinste ihn an. Mit dem Schnurrbart konnte ich Nick kaum ernst nehmen. »Ganz gut... eigentlich«, antwortete ich.
»Eigentlich? ...Was ist eigentlich da passiert?« Er deutete auf den Verband.

Ich wollte gerade antworten, als Dave sich einmischte. »Sie ist gestern die Treppe hinunter gefallen.« Er machte eine Pause, in der er mich warnend ansah, dann wandte er sich wieder an Nick und setzte ein Lächeln auf. »Zum Glück, hat sie sich nur leicht den Arm geprellt und es ist nichts weiter passiert.«
»Patrick?«, fragte ich.
»Ja?«
»Ich...« Doch weiter kam ich nicht, denn ich wurde unterbrochen.
»Sie wollte bestimmt gerade von unserem neuen Gartenhaus berichten«, fiel mir Dave ins Wort.
»Nicht wahr, Lucy?«, fragte er und warf mir noch einen angsteinflößenden Blick zu, der mich erschaudern ließ. Stumm nickte ich. Mein Gott, Dennis fühlt seine Rolle ja richtig, dachte ich.
Nach einer Weile beobachtete ich, wie Marco zur offenen Küche ging. Ich fragte mich, ob er nun doch noch Kartoffeln kochen wollte, denn die Diskussion darüber hatte lange angedauert.

Ich, oder eher gesagt Lucy fasste sich ein Herz und startete eine erneute Unterhaltung mit Patrick. »Ich ... ähm...« Noch einer dieser gruseligen Blicke von Dave brachte mich kurzzeitig aus der Fassung. »Ich wollte noch etwas erzählen. Ich...« Und wieder eine Unterbrechung durch Dave. Dennis hatte ein echt gutes Timing. Ich fragte mich, seit wann er so gut schauspielern konnte.
»Lucy! Gib mir mal das Salz rüber«, verlangte er. Diesmal löste Daves Verhalten irgendetwas in Cathrine los.
»Dave! Wenn du sie noch einmal unterbrichst, kannst du gerne gehen! Wir sind hier zusammen, um uns zu unterhalten«, zischte sie.
Doch das hätte sie sich lieber dreimal überlegen sollen, denn Dave erhob sich und packte sie am Kragen. »Achso?«, fragte er und funkelte sie an.

Sofort warf ich einen Blick zu Cathrines Partner, Marco. Ja, er hatte es mitbekommen und ballte die Hände zu Fäusten, sodass es fast schon wehtun musste, doch er unternahm nichts.
Cathrine war ganz still geworden. Er hatte sie eingeschüchtert.
Unbeeindruckt nahm Dave wieder Platz. Er sah mich fragend an, ich war wohl vor Schreck aufgesprungen und in eine Art Schockstarre verfallen. Was für eine miserabele Schauspielerin ich doch im Vergleich zu Dennis war.

Gerade wollte ich mich wieder setzen und so tun, als wäre nichts gewesen, als plötzlich das Licht erlosch. Weiter blieb ich wie erstarrt stehen und vernahm Schritte. Ich schluckte. Jemand kam näher... und näher... und noch näher. Keiner sagte ein Wort.
Erneut musste ich schlucken, als ich eine Art Stöhnen hörte. Es war geschehen, genau jetzt war es geschehen. Ich konzentrierte mich. Wieder Schritte, aber zu wem gehörten sie. Sie wurden leiser. Es klackte und das Licht war wieder an.

»Eine Sicherung ist rausgeflogen«, erklärte Marco, der am Sicherungskasten stand. Ich starrte ihn ungläubig an, dann wandte ich mich meinem Platz zu und erst da sah ich das Drama.
Dave lag mit dem Kopf auf dem Tisch in seinem Rücken steckte ein Messer. Es war täuschend echt. Erst nachdem ich es eine Weile betrachtet hatte, erkannte ich wie es eigentlich befestigt war. Cathrine lief aufgeschreckt hin und her. Ich stand noch immer wie versteinert am selben Ort und starrte auf das Messer in Daves Rücken, um Lucys Schock zu verdeutlichen.

Im Augenwinkel beobachtete ich wie Marco versuchte Cathrine zu beruhigen, dann senkte ich den Kopf zum Boden. Nach einer Weile spürte ich Patricks Arm auf meinen Schultern liegen und eine vertraute Wärme durchzog mich. Ich drehte meinen Kopf zu ihm und musste mir auf die Lippe beißen, um mir ein Grinsen zu verkneifen. Nicks Bart war einfach zu komisch.

»Dave wurde umgebracht. Der Täter hat ihn kaltblütig im Schutz der Dunkelheit erstochen. Allen ist bewusst, dass nur einer der hier Anwesenden der Mörder sein kann, nur wer?«, schaltete sich Abby ein. Das fragte sich nun jeder.

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