(POV Lorraine)
»Bitte sag es nochmal«, flehte Chester und hielt sich den Bauch vor lachen. »Nur noch ein einziges Mal.«
»Nein, das ist verstörend.« Lorraine saß auf der Couch und drückte Mr. Zähnchen an sich. Auf ihrem Bauch lag eine Wärmflasche. »Ich habe noch nie sowas krankes gehört.«
»Der Second-Hand Grufti ist ein Zwitter«, johlte Chester und warf sich lachend in einen Sessel, der gegenüber von der Couch stand. »Das übertrifft all unsere Geschichten!«
»Ich wünschte, er wäre ein Satanist UND ein Vampir. Das wäre für mich besser zu verkraften, als dieser Schock.« Mr. Zähnchens abgekratzte Plastikaugen sahen vertrauensselig zu ihr hinauf. Er erinnerte sie stets an eine Zeit, in der das Leben noch nicht so kompliziert gewesen war. Damals. Als Kind. Deshalb konnte sie sich nicht von ihm trennen. »Wie kann man denn beides sein? Junge UND Mädchen?«
»Der hat bestimmt eine Pussy und einen Pimmel. Meinst du er hat auch Titten?«
»Ih, hör auf!« Lorraine spielte mit dem Gedanken, ihren Stoffhasen in seine Richtung zu werfen, aber damit würde sie sich selbst schaden. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihr Bruder ihre Sachen kaputtmachte, sobald er sie in die Finger bekam. »Warum musst du immer so ekelhafte Bezeichnungen benutzen?«
Chester grinste schief. »Entschuldigen Sie, die edle Dame. Denken Sie, der hat eine Vagina und einen Penis, sowie Brüste?«
»Ich will da nicht drüber nachdenken.« Lorraine drehte sich in Richtung Wand und versuchte, sich mit anderen Gedanken abzulenken. Sie dachte an Schuhe. Sie hat im Internet ein Paar gesehen, welches sie sich unbedingt bestellen wollte. Das könnte sie tun. Schuhe waren immer eine gute Ablenkung. Aber dafür müsste sie ihre Eltern um Geld bitten. Das war in letzter Zeit schwieriger. »Ich gehe dem ab jetzt aus dem Weg.«
»Meinst du das ernst?« Chesters Stimme überschlug sich beinahe vor Schreck. »Gerade jetzt musst du dranbleiben!«
Lorraines Augenbrauen zogen sich zusammen. Sie drehte ihren Oberkörper in seine Richtung »Warum gerade jetzt?«
Chester saß aufrecht auf dem Sessel. Er lehnte sich vor, um seine Ellbogen auf seine Knie zu lehnen und seinen Plan mit Handbewegungen zu untermalen. Dabei war sein Gesicht steinern. »Du meintest, er steht wahrscheinlich auf dich, oder?« Er hielt inne und machte eine abwinkende Bewegung. »Wobei ... müsste es nicht heißen es steht auf dich?«
»Worauf willst du hinaus?«
Chester biss sich auf die Unterlippe. Er schien seinen Plan in Gedanken durchzugehen. Seine Augen verdüsterten sich und er lehnte sich zurück, bevor er weiterredete. »Du wickelst ihn um den Finger und verführst den Trottel. Dann, wenn er dir genug vertraut und ihr im Bett landet, machst du ein Foto von ... Was auch immer er da unten hat.«
»Hör auf damit, das ist ja grausam.« Lorraine starrte ihren Bruder entgeistert an. »Das werde ich nicht tun. Ich möchte nicht mehr mit ihm abhängen und schon gar nicht ins Bett mit ihm. Außerdem ist deine Idee zu extrem.«
»Ach, du Spielverderberin. Du weißt genau, dass die Sache durch die Decke gehen würde. Wir hätten eine Menge Spaß mit der Story.«
Lorraine stand von der Couch auf und begab sich kopfschüttelnd in Richtung Badezimmer. »Du gehst wie immer zu weit. Vergiss die Sache.«
Chester lehnte sich seufzend zurück. Sein Blick landete bei der Zimmerdecke.
Während Lorraine sich im Badezimmer fürs Bett fertigmachte, hörte sie, wie ihre Eltern nachhause kamen. Sie lauschte kurz, wie sie Chester im Wohnzimmer begrüßten und sich danach wegen irgendetwas stritten. Mal wieder. Sie verdrehte die Augen. Ihr Spiegelbild tat dasselbe. Ihre Blicke trafen aufeinander und verharrten für eine Weile in ihrer Position. Manchmal wünschte sich Lorraine, dass sie in der Welt hinter dem Spiegel verschwinden könnte. So wie es in einigen Märchen möglich war.
Seit Monaten setzte sich ihre Mutter mit den Frauenrechten auseinander. Anfangs waren ihre Argumente noch nachvollziehbar gewesen und sie hatte frischen Wind in den Alltag der Familie gebracht. Mittlerweile nahm sie ihre Berufung allerdings zu genau und kritisierte so gut wie alles, was ihr Vater tat. Das führte regelmäßig zu Streitereien. Vermutlich hat er seine Schuhe beim Reinkommen nicht in den Schuhschrank gestellt und ihre Mutter hat sich darüber aufgeregt, dass das Aufräumen mal wieder an der Hausfrau hängen blieb. Das reichte schon aus, um ein Feuerwerk der Aggressionen zu entfachen. Im Grunde verstanden sich die beiden nicht mehr miteinander. Ihre Mutter schob die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau vor, um das Verhalten ihres Vaters in jeder Lebenslage kritisieren zu dürfen. Es wäre für alle das Beste, wenn sie sich trennen würden, aber sie hielten an der Ehe fest. Warum auch immer.Lorraine löste sich vom Spiegelbild, als sie eine Tür knallen hörte. Chester ist vermutlich ins Zimmer gestürmt, um dem Ärger zu entgehen. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Das Familienleben in diesem Haus glich einer Bombenentschärfung. Falsche Worte, Bewegungen, manchmal sogar Atemzüge, genügten, um den Haussegen zu zerstören.
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Unmelodie
Teen FictionWattys 2022 Winner - Kategorie: Young Adult Ich danke euch allen. Für lesen, empfehlen, abstimmen und kommentieren. Diese Auszeichnung bedeutet mir sehr viel. Danke. :) Update 12.04.2024: Es gibt schon wieder ein neues Cover für diese Geschichte. Di...