Kapitel 14: Farina

85 13 2
                                    

(POV Merlin)

»Halte dich fern von ihm.« Die Worte hallten immer wieder zwischen Merlins Schläfen. Und er hielt sich daran. Wochen vergingen, in denen Tristan nichts von sich hören ließ. Merlin beobachtete manchmal, wie die Lichter im Nachbarhaus an und aus gingen. Er lauschte, wie der Fernseher oder die Musikanlage drüben dröhnte. Aber Tristan verließ das Haus nicht. Er saß nicht morgens auf seiner Treppe und schaute auch nicht vorbei, um sich nach Merlins Wohl zu erkundigen. Letzteres war auf eine erschütternde Weise schmerzhaft. Er brauchte ihn, für Dinge, über die er mit seinem Vater nicht reden konnte.

Die Situation in der Schule wurde schlimmer. Fast all seine Mitschüler schikanierten ihn und riefen ihm Worte hinterher, die er am liebsten gar nicht in seinen Sprachgebrauch aufnehmen wollte. Begegnungen mit Chester vermied er. Jedes Aufeinandertreffen endete schmerzvoller als das vorige. Immer wieder wurde Merlin von ihm und seinen Freunden verprügelt, angespuckt, beleidigt und beklaut. Deshalb nutzte er mittlerweile umständliche Umwege, um das Schulgebäude zu betreten oder zu verlassen. Manchmal gab er vor, mit einer Lehrkraft nach der letzten Stunde ein Gespräch führen zu müssen, um für eine Weile im Gebäude abzuwarten, bis die Luft rein war. Einmal hat er sich an eine Lehrerin gewendet, in der Hoffnung, dass sie etwas gegen die Mobbing-Situation unternehmen würde. Sie hatte beteuert, dass sie sich kümmern würde und dem Thema eine Unterrichtsstunde gewidmet. Seitdem lief alles nur noch schlimmer. Wenigstens konnte er mit Lorraine reden. Wenn sie sich in seiner Nähe aufhielt, war er vor den anderen sicher. Aber sie war andauernd krank und lieferte ihn damit seinen Peinigern aus.

Als er gerade in einem der stickigen Flure des Gebäudes um eine Kurve bog, stellte sich ihm ein Mädchen in den Weg. Sie war in seinem Alter, aber mindestens 2 Köpfe kleiner. Er kannte sie vom Sehen, denn sie war in einer Parallelklasse. Üblicherweise hielt sie sich zurück und wirkte eher abweisend, aber in diesem Moment verbarg sich eine Warnung in ihrem Blick. Sie hatte braune Locken und obwohl sie eine zierliche Erscheinung abgab, war der erste Eindruck von ihr eher klobig. Ihre Anziehsachen waren viel zu groß und passten nicht zueinander.

»Du bist Merlin oder?« Sie lief neben ihm her und redete auf ihn ein, sah aber nicht in seine Richtung.

»Das ist richtig«, entgegnete er. Sein Herz machte einen Sprung, weil er nach Wochen endlich wieder mit seinem Namen angesprochen wurde und nicht mit Zwitter oder Missgeburt.

»Dann pass jetzt mal auf.« Ihr Gesichtsausdruck wurde düster. »Halte dich von Lorraine und ihrem Bruder fern.«

Merlin hörte ihr zu, konnte ihren Worten aber nicht folgen. Warum sollte er ihr vertrauen? »Toller Tipp«, höhnte er und deutete in den Gang vor sich. Er nahm nicht ohne Grund diesen Umweg. »Ich gehe Chester aus dem Weg. Aber Lorraine?« Sein Magen zog sich zusammen. Mit ihr verstand er sich nach wie vor gut. Sie war seine einzige Freundin. Sie würde ihm niemals etwas Böses wollen, oder?

»Und achte darauf, mit wem du redest. Du wirkst nicht so, als würde es dich stören, dass die halbe Stufe über dich herzieht.« Sie krempelte ihre Ärmel hoch, weil diese immer wieder über ihre Hände rutschten.

»Die halbe Stufe?« Merlin wusste nicht, was sie ihm sagen wollte. »Woher weißt du das? Wer bist du?«

Das Mädchen seufzte genervt. Ihre Zähne sahen ungepflegt aus. Irgendwie erregte sie ein mitleidiges Gefühl in ihm. »Ich bin Farina, du kennst nicht einmal die Namen deiner Mitmenschen? Man, echt. Du solltest dringend aufmerksamer werden.« Ihr linker Ärmel rutschte über ihre Hand. »Ich war mal mit Lorraine befreundet, bevor wir in verschiedene Schulklassen kamen. Sie ist manipulativ, hinterhältig und hält mehr zu ihrem Bruder, als du dir vorstellen kannst.«

Das stimmte Merlin nachdenklich. Natürlich hielten Zwillinge zusammen, daran führte kein Weg vorbei. Aber Lorraine hatte ihn mehrfach vor ihrem Bruder beschützt. Was auch immer Farina und Lorraine erlebt hatten, lag Jahre zurück. Sie war mit Sicherheit die Freundin gewesen, die hinter der Unterschrift auf Lorraines Etui steckte.

UnmelodieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt