Kapitel 8: Schule

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(POV Merlin)

Der folgende Morgen verlief schleppend. Merlin saß lange am Frühstückstisch und überlegte, ob er sich für den Tag krank melden sollte. Obwohl er gesund war, fühlte er sich unwohl. Die Konfrontation mit Chester lastete auf seinem Wohlbefinden. Dass ihm seine Sachen gestohlen wurden, hat er vor seinem Vater bisher geheim halten können. Er war zum Glück in ein Projekt vertieft. Woran er arbeitete, wusste Merlin nicht. Das Einzige, was er wusste: Seit einigen Monaten verschwand er häufiger als gewohnt in seinem Arbeitszimmer. Wenn es darum ging, ein Geheimnis vor ihm zu bewahren, dann war das praktisch. Aber wenn Merlin ihn brauchte, um seinen Frust von der Seele zu reden, dann fehlte er. An diesem Morgen ganz besonders.

Als er das Haus verließ und sein Fahrrad aufschloss, entdeckte er Tristan, seinen Nachbarn. Er saß auf seinen Treppenstufen vor der Haustür und streichelte eine Katze, die sich an seine Beine schmiegte und immer wieder vor ihm hin und her trottete. Der rothaarige Mann lebte nebenan, seitdem Merlin denken konnte. In gewisser Weise stellte er eine Art zweite Bezugsperson für ihn dar. Er hat einen Teil von Merlins Erziehung übernommen und verstand sich blendend mit Lucius. Genaugenommen stellte er dessen einzigen Außenkontakt dar. Wenn er es nicht besser wüsste, dann würde Merlin ihn als zweiten Vater bezeichnen.

»Guten Morgen«, grüßte Tristan mit seiner anhaltend freundlichen Stimme. Er deutete auf seine Füße, welche von der Katze in Beschlag genommen wurden. »Ich würde aufstehen, aber Mimi hat andere Pläne.«

Merlin grinste schief. Mimi war Tristans Katze. Sie war ihm irgendwann zugelaufen und streunte seitdem in der Umgebung ihrer Häuser herum. Manchmal passte Merlin auf sie auf. Sie setzte sich oft in den unpassendsten Momenten auf irgendwelche Körperteile und schien dort festzuwachsen. »Darf ich mich kurz zu euch setzen?«

Tristans Augenbrauen wanderten nach oben. Ein warmes Lächeln schlummerte in seinen Mundwinkeln. »Was liegt dir auf dem Herzen?«

»Muss mir etwas auf dem Herzen liegen, nur weil ich mich zu euch setzen möchte?« Merlin schlenderte auf das Nachbargrundstück und setzte sich neben Tristan auf die Treppe. Mimi streckte ihm ihren Kopf entgegen, also streichelte er sie. Die Berührung ging zart vonstatten. Seine Finger streiften nur einen hauchbreit ihre Stirn, die feinen Härchen waren kaum zu spüren.

»Du siehst betrübt aus.«

Merlin zuckte mit den Schultern. Er beobachtete, wie Mimi sich vor seinen Füßen wandt und mit ihrem Kopf immer wieder den Kontakt zu seinen Fingerspitzen suchte. »Ich glaube, die anderen finden mich komisch.«

»Komisch?« Tristan fuhr sich mit der Hand durch das Haar und brachte die kurzen Locken durcheinander. »Hast du ihnen erzählt, dass du intersexuell bist?«

»Nein«, antwortete Merlin mit rauer Stimme. »Ich glaube, dafür sind sie noch nicht bereit. In der Schule gibt es nur Mädchen und Jungen. Männer und Frauen. Ich muss mir etwas einfallen lassen, wie ich damit umgehen soll.« Er lachte knapp. »Genaugenommen muss ich generell lernen, mit anderen umzugehen.«

»Hast du Ärger mit jemandem?«

»Nicht direkt. Also ... eigentlich schon. Aber ich glaube, ich muss die Sache alleine in den Griff bekommen.«

Davon schien Tristan nicht überzeugt. Er lehnte sich zurück und gab einen unzufriedenen Laut von sich. »Du musst dich nicht alleine durchkämpfen. Wenn du Hilfe brauchst, dann kannst du dich jederzeit an mich wenden. Oder an deinen Vater. Das weißt du, oder?«

»Natürlich.« Merlin lächelte vorsichtig. Mimi kletterte mit ihren vorderen Pfötchen auf seinen Schoß und blickte ihm erwartungsvoll entgegen. »Ich fühle mich jetzt schon besser. Einfach, weil ich das Thema angesprochen habe.« Er warf Tristan einen dankbaren Blick zu. »Es gibt einen Schüler, der mich ständig beleidigt. Er ist ziemlich gemein und ich verstehe nicht wirklich, warum das so ist. Meinst du, ich soll mit ihm reden?«

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