Kapitel 24: Suche

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(POV Lucius)

Lucius bewegte sich wie eine eingeschüchterte Katze durch die fremde Umgebung, die jede seiner Körperfasern mit Furcht flutete. Draußen. Hier ist er seit Jahren nicht mehr gewesen. Bislang haben kurze Ausflüge in den Garten seinen Puls in die Höhe getrieben und das hat ihm gereicht. Aber Merlin ist völlig aufgelöst aus dem Haus gestürmt und es war schwer einzuschätzen, wohin ihn seine Verwirrung verschlagen würde. Er musste ihn finden, deshalb war seine Panik in diesem Augenblick zweitrangig.

Mit jedem Schritt schien die Luft dünner zu werden und Lucius benötigte tiefere Atemzüge, um sich mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen. Beide Handflächen schwitzten und in seiner Brust hämmerte das Herz intensiv.

»Merlin!«, rief er und erschauderte bei dem Klang seiner Stimme, die unter dem freien Himmel weiter getragen wurde als in einem Gebäude. Ein Echo schallte von den umliegenden Häusern zurück und zwang ihn zum Stehenbleiben.

Als sein Smartphone vibrierte, entfuhr ihm ein Schrei und er lachte verlegen, als ihm klar wurde, dass überhaupt nichts passiert war. Er hat nur eine Nachricht erhalten. Weiter nichts. Mit zitternden Bewegungen zog er das Gerät aus der Hosentasche. Vielleicht hat Merlin sich gemeldet? Um zu sagen, dass es ihm gut ging? Hoffnung keimte auf, aber sie verwelkte wie eine kurzlebige Schnittblume, als Tristans Profilbild erschien. Beim Anblick der rostroten Locken entflammte eine Erinnerung an Sehnsucht in Lucius' Brust und er seufzte, ehe er sich der Nachricht widmete.

Versteckt euch im Labor.

Im Labor? Jetzt? Die zurückgehaltene Panik brach über Lucius herein, wie eine unvorhergesehene Lawine über eine Gruppe von Skiurlaubern. Die Überforderung trieb ihm Tränen in die Augenwinkel und sein Hals fühlte sich so eng an, als würde er jeden Augenblick an Sauerstoffmangel umkommen. Wenn Tristan ihn zum Verstecken aufforderte, dann war die Lage ernst. Aber er konnte nicht ohne Merlin untertauchen. Wenn dem Jungen etwas passierte, dann würde er sich das niemals verzeihen.

Ein erstickter Schrei ging seiner Handlung voraus: Er rannte, einfach geradeaus, immer die Straße entlang. Wiederholend schrie er Merlins Namen und je länger die Suche dauerte, desto intensiver wurde das hitzige Gefühl, welches seine Entschlossenheit befeuerte. Mit jeder verstreichenden Minute spürte er den Abgrund näher kommen, der sie schon seit Jahren bedrohte. Wie bei einem Wettlauf gegen die Körner in einer Sanduhr, rannte Lucius durch seine Nachbarschaft, mit der unsichtbaren Gefahr im Nacken.

Bis ihn ein entgegenkommendes Auto blendete und sein Tempo verebben ließ. Dann realisierte er, wo er sich befand. Draußen. Plötzlich umklammerte ihn seine Angst, wie eine fleischfressende Pflanze eine neugierige Fliege. Er war draußen. Draußen!

Das Auto blieb neben ihm stehen und das Beifahrerfenster wurde heruntergefahren. Eine rothaarige Frau musterte ihn und grinste überheblich, als wäre sie eine Paparazza, die einen Promi bei einer verbotenen Tat erwischt hatte. »Was für ein Glück.«

Lucius drehte den Kopf, um zum hinteren Fenster des Wagens zu sehen. Durch die Scheibe starrten ihm Tristans moosgrüne Augen ungläubig entgegen. Sein Gesicht war von Entsetzen gezeichnet und er stellte tausende Fragen, ohne sie laut auszusprechen. Die eindeutigste von allen, hauchte er fassungslos, während er das Fenster runterließ.
»Was machst du draußen

Lucius schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo Merlin ist.«

»Merlin, hm?« Melissa runzelte die Stirn. »Also zieht ihr das Kind als Jungen groß?«

»Halt dich raus«, knirschte Tristan und kletterte aus dem Fenster. Er plumpste vor Lucius auf den Asphalt und rappelte sich fluchend auf. »Worauf wartest du?«, schrie er und zerrte an Lucius' Kleidung. »Lauf!«

Es dauerte einen Moment, bis die Situation sich in Gänze erfassen ließ. Tristan rannte in die Nacht davon, Melissa brüllte und eine fremde Männerstimme ergänzte ihre Worte.

Lucius drehte langsam den Kopf in ihre Richtung, bevor er seinen Beinen den Befehl zum Rennen gab. Sein Körper flüchtete vorwärts, seine Augen richteten sich nach hinten und somit konnte er beobachten, wie Melissa etwas aus der Innenseite ihrer Jacke zog. Etwas glänzte in ihrer Hand. Sie streckte den Arm aus. Warum rannte sie nicht mehr? Sie blieb stehen. Ihr Arm zuckte.

Ein Knall ertönte und zischte unheilvoll durch die Nacht.

Dann fuhr Kälte durch Lucius' Schulter, gefolgt von einem betäubenden Kribbeln.

Langsam wandelte es sich zu Schmerz und er stöhnte auf, während seine Beine zu taumeln begannen. Geradeaus rennen konnten sie nicht mehr. Sie wurden weich, ergaben sich dem Schmerz, der sich von der Schulter aus in den gesamten Organismus ausbreitete, und knickten ein. Lucius presste die Zähne aufeinander und schrie benommen, als sein Körper auf den Asphalt prallte. Er fasste sich an die schmerzende Schulter und erfühlte etwas Nasses. Wie unter Hypnose bewegte er seine Hand vor das Gesicht.

Blut.

Ihm blieb keine Gelegenheit, die Situation einzuschätzen, denn der fremde Mann fasste ihm unter die Arme und schleifte ihn auf Melissas Befehl hin zum Auto. Die schmerzgeschwängerten Protestschreie seines Opfers ignorierte er und so blieb Lucius nichts anderes übrig, als zu beobachten, wie Tristan umdrehte und mit aufgerissenen Augen zurückhastete.

Es gab eine Auseinandersetzung mit Melissa, aber die konnte Lucius nicht in Gänze erfassen. Zu stark zehrte der Schmerz an seinem Bewusstsein. Tristan flehte darum, dass sie Lucius nicht mitnahmen. Er bettelte förmlich, ihn zu einem Krankenhaus bringen zu dürfen. Das Einzige, was sie ihm anbot, war, dass er sie begleitete. Zurück. Dorthin, wo Lucius' Leben begonnen hatte. In Gefangenschaft.

Kurz darauf saßen sie beide auf der Rückbank des dunklen Autos. Melissa nahm vorne Platz und der fremde Mann übernahm das Steuer.

Tristans Hände zitterten, aber er gab sein bestes, einen Druckverband anzulegen, um Lucius' am Leben zu erhalten. Immer wieder verirrte sich sein Blick voller Sorge in die Augen seines Patienten und er schluchzte bitterlich, während er sich knirschend mit Selbstvorwürfen überhäufte. »Ich hätte nicht mitfahren sollen. Du hättest ... nein, wir hätten-«

»Hey«, krächzte Lucius beinahe tonlos und legte seine blutverschmierte Hand an Tristans. Ein Lächeln zuckte über seine Lippen. »Ist schon gut.«

Tristan verzog das Gesicht und wischte sich die Tränen von den Wangen. Dabei hinterließ er eine blutige Spur auf seiner sommersprossigen Haut. »Bitte stirb nicht.«

Lucius nickte. Das hatte er nicht vor. Die Schmerzen lähmten seine Wahrnehmung, trotzdem fühlte er sich lebendig. Melissa hat auf ihn geschossen, aber die Kugel hat wohl keine wichtigen Organe getroffen. Er lehnte den Kopf gegen das Polster hinter sich und stöhnte schuldbewusst. »D-du musst Merlin finden.« Mit diesen diffusen, letzten Worten legte Lucius die Lider aufeinander und gab sich einem unbehaglichen Delirium hin.

UnmelodieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt