Kapitel 15: Besuch

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(POV Lucius)

Während er in der Küche stand, um Merlins Lieblingsessen zuzubereiten, schwenkte Lucius' Blick immer wieder zum Fenster. In Tristans Schlafzimmer brannte Licht. Ob er ihn anrufen sollte? Langsam aber sicher vermisste er ihn. Seine roten Locken. Und die grünen Augen. Und das Lächeln, welches immer in seinen Mundwinkel ruhte. Lucius schüttelte sich. Langsam dämmerte es ihm. Tristan fehlte ihm nicht, weil er auf seine Hilfe angewiesen war, sondern weil er ihn von Herzen mochte. Der Gedanke bereitete ihm Magenschmerzen. Durfte er überhaupt zulassen, dass seine Empfindungen für Tristan eine professionelle Ebene überschritten? Durfte er, als das, was er war, überhaupt-Autsch!
Scharfer Schmerz zuckte durch seinen Finger. Er fluchte. Hatte er sich geschnitten? Natürlich. Wieso dachte er auch über solch einen Unsinn nach? Er hatte kein Recht, Gefühle für Menschen zu entwickeln. Genaugenommen durfte er nicht einmal existieren. Mit verzogenem Gesicht hielt er seinen blutenden Finger unter den Wasserhahn.

Alles in ihm schrie danach, zurück in Merlins Zimmer zu gehen. Um ihm endlich die Wahrheit zu sagen. Über seine Vergangenheit und die Gefahren, die damit zusammenhingen. Es war fahrlässig, ihm zu erlauben, tagtäglich das Haus zu verlassen. Aber er konnte nicht einschätzen, wie sein Sohn auf die Wahrheit reagieren würde, was sie mit seinem Selbstbild anrichten würde. Er hatte es schon schwer genug.

Bevor er seinen Gedanken zu Ende führen konnte, regte sich etwas bei Tristans Haus. Zwei Personen näherten sich seiner Tür. Lucius näherte sich dem Fenster, um sie zu beobachten. Es waren ein Mann und eine Frau. Kannte er sie? Er beugte sich vor, um ihre Gesichter zu erkennen.
Die Frau hatte rotes Haar. War das Melissa? Niemals. Oder? Als sie sich umsahen, zog er den Kopf zurück, um nicht entdeckt zu werden. Er stellte sich mit dem Rücken neben das Fenster und lugte seitlich an der Gardine vorbei. Die rothaarige Frau stand vor Tristans Wohnzimmerfenster, auf Zehenspitzen, und starrte ins Innere. Wenn sie wirklich Melissa war, dann war die Gefahr realer als befürchtet. Das bedeutete, sie hatten ihn gefunden. Nach fünfzehn Jahren. In seinem Hals bildete sich ein Kloß. Er schluckte, aber das Gefühl verschwand dadurch nicht. Spätestens jetzt musste er mit Merlin reden. Aber zuvor war es wichtiger, Tristan von seiner Beobachtung zu berichten. Er zog mit zitternden Händen sein Smartphone aus der Tasche, öffnete Tristans Kontakt und wartete ab, bis sich die beiden Personen von dessen Haus zurückzogen. Sobald sie außer Reichweite waren, rief er seinen Nachbarn an.

Es dauerte ewig, bis der Anruf entgegengenommen wurde. In der Zwischenzeit hat er sich ins Arbeitszimmer zurückziehen und die Tür hinter sich abschließen können. Erst als er sich dem Schrank widmete, meldete sich Tristan mit gedämpfter Stimme.

»Komm jetzt bloß nicht runter.«

Lucius hielt in seiner Bewegung inne und seufzte. Seine Pupillen tasteten die Fassade des Schrankes ab. »Sie waren gerade vor deinem Haus.«

»Ich weiß.« Es raschelte im Hintergrund. »Sie sitzen noch im Auto. Unternimm auf keinen Fall irgendetwas Auffälliges.«

»Was, wenn sie hier klingeln?«

Tristan stöhnte leise. »Dann mach nicht auf. Tu so, als wäre niemand zuhause.«

»In Ordnung.« Lucius lehnte sich gegen seinen Schreibtisch und starrte den Schrank sehnsüchtig an. »Können wir uns nicht kurz unten treffen? Wir haben uns ewig nicht gesehen, ich-«
Seine Innereien zogen sich zusammen, als die Türklingel schrillte. Er weitete die Augen und stemmte sich von der Tischplatte, um auf die Tür zuzuhasten.

»Nicht aufmachen!«, mahnte Tristan. »Beweg dich am besten gar nicht.«

»Ja, aber...«, begann Lucius und öffnete so leise wie möglich die Arbeitszimmertür. Am Ohr verharrte das Smartphone. Er lauschte Tristans angespannten Atemzügen. Was er wohl dachte? Er schien Lucius überhaupt nicht zu vermissen. War er vielleicht sogar froh, dass sie sich nicht mehr täglich sahen? Er schlich zum Flur und erstarrte.

Die Haustür stand offen.

Merlin redete. Aber mit wem?

»Mir ist nicht danach.«

Eine weibliche Stimme antwortete. »Ach komm schon. Du wirst sehen, die anderen haben keine Lust mehr, dich immer nur zu mobben. Sie wollen dich einfach mal kennen lernen. Außerhalb der Schule.«

»Wer ist das?«, krächzte Lucius tonlos und presste das Smartphone dichter an sein Ohr. Er konnte hören, wie Tristan an seinen Fingernägeln kaute.

Merlin seufzte und trat beiseite, um Sicht nach draußen zu gewähren. Ein Mädchen stand vor der Tür, mit einer pinkfarbenen Haarsträhne und einem passend pinken Outfit.

»Hi, ich bin Lorraine.« Ihre Augen scannten Lucius von oben bis unten und sie stieß einen beeindruckten Pfiff aus. »Holy Shit, ist das dein Vater? Der sieht geiler aus als die Polizei erlaubt!«

»Guten Tag«, reagierte Lucius mechanisch und erwiderte ihren Blick. Sie war nur ein Teenager, aber er fühlte sich von ihr bedroht. Als würde er nackt in einem leeren Raum stehen und von einem Wissenschaftler begutachtet. Diesen Gedanken, der eigentlich eine Erinnerung war, schüttelte er ab.

»Ich sehe, Sie telefonieren«, erklärte Lorraine und machte eine abwinkende Bewegung. »Ich möchte nicht stören. Eigentlich will ich nur Merlin abholen.«

»Okay«, antwortete Lucius nüchtern und befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. »V-viel Spaß?«

»Ich geh' nicht mit«, bemerkte Merlin und zuckte mit den Schultern. »Meine Freizeit möchte ich nun wirklich nicht mit deinem Bruder verbringen.«

Lucius stierte an den beiden vorbei, auf die andere Straßenseite. Dort parkte ein schwarzer SUV mit verdunkelten Scheiben. Die beiden behielten Tristans Haus im Blick, aber was, wenn sie auch zu diesem rüber sehen würden? Wenn sie Merlin sähen und ihn erkennen würden?

»Bitte deine Freundin doch rein«, nuschelte er und hangelte sich rückwärts, an der Wand entlang, in Richtung Küche. Noch immer stieß Tristans Atem an sein Ohr.

»Ich lenke sie ab«, flüsterte dieser in das Smartphone und setzte sich, den Geräuschen nach zu urteilen, in Bewegung. »Ich leite sie auf eine falsche Fährte. Bitte ... kümmert euch um Mimi, okay?« Mit diesen Worten legte er auf.

Lucius senkte das Smartphone und deutete in die Küche. »Lasst uns zusammen essen.« Er setzte ein unechtes Lächeln auf, welches schmerzhaft durch den Kiefer zog. »Ich bin gerade dabei, etwas zu kochen.«

Merlin runzelte die Stirn. »Bist du sicher?« Er schien die Situation für einen Test zu halten. Eigentlich durfte kein Besuch in dieses Haus. Langsam verschränkte er die Arme.

»Ich bin sicher.« Lucius schluckte und beobachtete, wie Tristan sein Haus verließ. Mit Jacke und Rucksack. Seine roten Locken schimmerten im Licht der Abendsonne. Er würde für längere Zeit verschwinden. Oder für immer? Schwer wie ein Stein belagerte Unmut seinen Magen.

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