Kapitel 28: Zita

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(POV Merlin)

Zuhause herrschte eine unheimliche Stille. Der Ort, an dem Merlin sich normalerweise geborgen fühlte, hatte in diesem Augenblick eine tote Ausstrahlung. Alles strotzte vor unheilvoller Sorge, denn Lucius war nicht da. Mit seinem Besitzer hatte das Haus seine Seele verloren.

Merlin lief zum vierten Mal durch alle Etagen, um in jedem Raum nach seinem Vater zu suchen. Nur vor dem Arbeitszimmer verharrte er andächtig. Dort durfte er nicht rein. Aber das hier war eine Ausnahmesituation, oder?

Carla wartete im Eingangsbereich. Sie schenkte ihm einen sorgenvollen Blick, wann immer Merlin an ihr vorbei lief. »Vielleicht ist er da drin?« Sie deutete auf die geschlossene Arbeitszimmertür. »Du sagtest, du darfst nicht rein. Aber was ist, wenn er Hilfe braucht?«

Merlin schluckte. Das war wirklich möglich. Was, wenn er sich in diesem ominösen geheimen Kellerraum verletzt hatte und jetzt darin auf Hilfe wartete? »M-meinst du, ich sollte nur mal kurz gucken?«

»Auf jeden Fall!« Carla schien kein Problem damit zu haben, Privatsphären zu überschreiten. Vielleicht war sie auch einfach nur gnadenlos hilfsbereit.

Merlin zögerte. Nur langsam streckte er seine Hand der Türklinke entgegen. Als seine Handfläche das kalte Metall berührte, fuhr ein Schauer über seinen Rücken. Er zuckte zusammen, als Carla ihre Hand ermutigend auf seine Schulter legte. Ihre Augen trafen sich kurz und das bernsteinfarbene Braun, das ihm aus den Iriden seiner neuen Bekanntschaft entgegenschlug, ermutigte Merlin zu der ersten verbotenen Tat in seinem Leben. Er drückte die Klinke runter.

»Ich bin noch nie in diesem Zimmer gewesen.«

Carla musterte zuerst Merlin, dann die Tür. »Soll ich für dich nachsehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dass ich irgendwie sogar die Erlaubnis habe, doch reinzugehen.« Hatte Lucius ihm nicht angewiesen, das Arbeitszimmer aufzusuchen? Um Antworten zu erhalten?

Als hätte er sich mit seinen Worten selbst bestärkt, schob Merlin die Tür auf und verschaffte sich Zutritt zum verbotenen Zimmer.

Ein stechender Geruch schlug ihm entgegen. Es roch nach scharfem Desinfektionsmittel oder einem aggressiven Reinigungsmittel. Merlin brauchte einen Augenblick, um sich dazu zu überwinden, in das sterile Geruchsfeld einzutreten. Den großen, dunkelbraunen Schreibtisch hatte er schon einmal gesehen, im Vorbeigehen, als die Tür offengestanden hatte. Sein Vater hat dagesessen und in einem Buch geblättert. Dass sich hinter dem Tisch eine weitere Tür befand, bemerkte er nun zum ersten Mal. Und dass diese Tür offen stand, brachte seinen Atem zum Stocken. Verbarg sich dahinter das geheime Labor? Der Raum, den Lucius und Tristan vor ihm verheimlicht hatten? Wenn er Glück hatte, dann waren sie gemeinsam dort unten.

Als er einatmete, zuckte er zusammen, denn die Brandwunde an seinem Bauch machte sich bei der unvorbereiteten Bewegung bemerkbar. Kurz darauf brannten seine Knie und erinnerten ihn daran, wo er sich noch vor wenigen Stunden befunden hatte. Die Beleidigungen seiner Mitschüler hallten wie ferne Echos zwischen seinen Schläfen. Vielleicht würde er an diesem Ort die Antworten auf all die Fragen seines Lebens bekommen. Und endlich verstehen, warum er sich von anderen unterschied. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Er fasste sich an die schmerzende Stelle neben seinem Bauchnabel.

Carla verharrte in der Tür, während Merlin sich im Arbeitszimmer umsah. »Soll ich dich lieber alleine lassen?«

Merlins Augen schweiften über Buchrücken, die in dunkelrotem Leder und goldenen Verzierungen an ein anderes Jahrhundert erinnerten. An der einzigen freien Wand hing ein Gemälde in goldenem Rahmen, es zeigte eine Weltkarte. Auf der Oberfläche waren Pins angebracht. Ob das Orte waren, die Lucius besuchen wollte? Merlins Magen zog sich zusammen. Er wusste, dass sein Vater davon träumte, die verschiedenen Kulturen der Erde kennen zu lernen, aber seine Angst verwehrte ihm seine Träume. »Nein«, widersprach er, »bitte komm mit rein.« Er löste sich von der Weltkarte und warf Carla einen hilfesuchenden Blick zu. Obwohl er sie erst seit kurzem kannte, hatte er das Gefühl, ihr vertrauen zu können. Sie hatte eine erfrischende Art, ihn anzusehen. Sie betrachtete ihn auf Augenhöhe und nicht von oben herab. Das war eine aufregend positive Erfahrung. Außerdem war sie in diesem Moment die einzige Person, an die Merlin sich klammern konnte. Er brauchte sie, um sich den Dingen zu stellen, die vor ihm lauerten.

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