Kapitel 27: Vergangenheit

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(POV Tristan)

Für eine geschlagene Minute herrschte Stille im Wagen. Abgesehen vom knirschenden Atem des Bewusstlosen und dem Trommeln in Tristans Brust. Bildete er sich das ein, oder konnte er seinen Herzschlag sogar auf der Zunge spüren? Mit schweißnassen Händen angelte er nach Lucius' Unterarm, um instinktiv nach Halt zu suchen. Er konnte einen Puls spüren. Das Gefühl von Lebendigkeit verschaffte ihm Erleichterung. Noch bestand die Möglichkeit, ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Noch war es nicht zu spät, sein Leben zu retten.

»Du liebst ihn.« Melissas Oberlippe zuckte, ehe sie sich mit einem abgehackten Lachen in den Sitz fallen ließ. »Das ist doch lächerlich.«

Manuel räusperte sich, öffnete die Lippen einen Spalt, als wolle er etwas sagen. Stattdessen startete er den Motor und bewegte das tonnenschwere Auto schleichend durch den sternenreichen Abend. Er atmete ruhig, war von einer entschlossenen Aura umgeben.

»Wohin fährst du?«, fragte Melissa schnippisch. Ihr Körper bäumte sich zu voller Größe auf, mit aufmerksamen Augen musterte die das Lenkrad.

Keine Antwort.

Tristan beobachtete den Fahrer, während er Lucius' Arm mit den Daumen massierte. Immer wieder hielt er inne, um den Puls zu ertasten. Schwache Herzschläge bestätigten Lebendigkeit. Aber wie lange noch? Kurz zuckte sein Blick zu der Wunde am Lucius' Schulter. Es sickerte kein Blut mehr nach, immerhin.

»Das Institut liegt in der anderen Richtung«, knurrte Melissa und beugte sich herüber, bei dem scheinbaren Versuch, dem Fahrer ins Lenkrad zu greifen.

Dieser stieß sie beiseite und lenkte den Wagen bei der nächsten Gelegenheit an den Straßenrand, wo er anhielt. »Du steigst besser aus.«

Obwohl er diese Worte ruhig von sich gegeben hatte, strahlte er durch seine Körperspannung Bedrohlichkeit aus.

Melissa weitete die Augen. Eine Ader trat auf ihrer Stirn hervor. Offensichtlich bereitete sie Widerworte vor, aber Manuel fiel ihr ins Wort.

»Ich unterstütze keinen Mord und bringe ihn ins Krankenhaus. Du steigst jetzt besser-« Er verstummte im Angesicht der Pistole, die sich vor seinem Gesicht aufrichtete.

Mit zitternden Händen zielte die rothaarige Frau zwischen seine Augen. Der Lauf der Waffe zeigte abwechselnd zwischen seine Augenbrauen, die Stirn, beide Augen. Mit bebender Stimme kreischte Melissa ihre folgenden Worte:

»Ich muss diesen Auftrag erfüllen!«

»Drück ab«, forderte Manuel nüchtern und ließ vom Lenkrad ab, um sich in einer offenen Position zu präsentieren. »Wenn irgendein Auftrag wirklich wichtiger ist, als deine Menschlichkeit.«

Mit rasendem Herzen und kaltschweißigen Händen, beugte sich Tristan vor, zwischen die Sitze. »Melissa, du bist keine Mörderin.« Obwohl seine Stimme bebte, bemühte er sich, ruhig zu sprechen. »Wer verlangt von dir, so grausam zu handeln?« Seine Pupillen sprangen zwischen der matt-schwarzen Waffe und dem aggressiv roten Gesicht seiner Schwester umher. Sie hatten lange keinen Kontakt gepflegt. Umso erschreckender war es, dass sie zu einem gewaltbereiten Menschen geworden war.

Sie presste die Zähne aufeinander, bis ihr Kiefer knackte. Schreiend senkte sie die Pistole, nur um sie danach auf ihren Bruder zu richten. Ein Atemzug verging im Schweigen. Als sich ihre Blicke trafen, rauschte Entsetzen über ihr Gesicht. Blanker Selbsthass wallte aus ihren Augen. Nein, was auch immer sie antrieb, ihrem eigenen Wesen entsprach es nicht.

»Alois leitet das Institut noch immer, nicht wahr?« Tristan erinnerte sich an Alois Bittlinger. Dem Wissenschaftler, der die Grenzen der Forschung so weit ausgeschöpft hatte, dass er seinen Doktortitel verloren hatte. Einst hat er Tiere geklont und unethische Kreaturen erschaffen, die zum Glück nicht lange überleben mussten. Als er angefangen hatte, mit Menschen zu experimentieren, war ihm seine Lizenz entzogen worden. Das hat ihn nicht davon abgehalten, heimlich weiter zu forschen. Er hat seine eigenen Zellen benutzt, um menschliche Klone zu erschaffen. Die meisten von ihnen sind gestorben oder haben es gar nicht erst geschafft, sich zu einem Embryo zu entwickeln. Nur ein einziger Klon hat es geschafft, gesund ins Leben zu treten. Lucius. Tristan blickte herüber, in das fahle Gesicht des brünetten Mannes, der ihm stets mit naiver Unschuldigkeit sein Vertrauen geschenkt hatte.

»Alois ist der Meinung, dass er ihm gehört. Er ist ... in gewisser Weise ein Teil von ihm.« Melissa versuchte zwar, überzeugend zu klingen, aber ihre Augen wiesen Zweifel auf.

Tristan schüttelte den Kopf. »Lucius hat sich zu einem eigenständigen Menschen entwickelt. Er hat ein Recht auf sein eigenes Leben.« In seinem Magen zog sich etwas zusammen und er schluckte, um das Gefühl loszuwerden. »Deshalb habe ich ihn mitgenommen.«

Wieder einmal spielten sich die Ereignisse der Vergangenheit vor seinem inneren Auge ab. Lucius hatte ihn zum wiederholten Male gefragt, wie ein Baum aussieht und gebettelt, nur einmal die Sonne sehen zu dürfen. Nur einmal hat er die elendig langweiligen Laborräume verlassen wollen. Aber das war ihm verboten worden, um seine Existenz zu verheimlichen.

Und dann war da das Baby gewesen. Ein Experiment, das zu weit gegangen war. Ein Wesen ohne Zukunft. Alois hatte eine Tochter gehabt, die an einer Krebserkrankung gestorben war. Zita. Ihre Zellen hat er über ihren Tod hinaus verwendet, um weitere Menschenklone zu erschaffen. Er hat testen wollen, ob es möglich war, aus weiblichen Anlagen einen männlichen Embryo zu entwickeln. Dadurch ist Merlin entstanden. Die Worte des Wissenschaftlers erzeugten immer noch eine Gänsehaut auf Tristans Körper.

»Wenn der Zwitterklon die ersten Monate überlebt, müssen wir ihn erlösen. Es wartet auch in Gefangenschaft kein angenehmes Leben auf ihn.« Tristan schüttelte sich, als die Erinnerungen ihm Magenschmerzen bereiteten. Hoffentlich befand sich Merlin in Sicherheit.

»Also ist er ein Klon von Dr. Bittlinger?« Manuel musterte Lucius' Gesicht, als würde er nach einer Ähnlichkeit zu seinem Ebenbild suchen.

Logischerweise ähnelten sich Lucius und Alois, aber sie hatten eine unterschiedliche Erscheinung. Immerhin waren sie unterschiedliche Personen mit eigenen Charakterzügen. Lucius wirkte ausgeglichen und freundlich, während Alois eher Stress und Unzufriedenheit ausstrahlte.

»Er ist kein Doktor mehr«, zischte Tristan und wandte sich mit eindringlicher Stimme an seine Schwester. »Du hast selbst erlebt, wie Lucius' aufgewachsen ist. Wie er angefangen hat, Fragen zu stellen. Er hat nie verstanden, warum er das Institut nicht verlassen durfte. Menschen sind dafür geschaffen, die Welt zu erforschen, über ihre Grenzen hinaus zu gehen. Bitte nimm ihm seine Freiheit nicht.«

Es dauerte Ewigkeiten, bis Melissas steinerne Mimik in sich zusammenfiel. Sie verzog gequält die Augenbrauen und wich dem Blick ihres Bruders aus. Dann knibbelte sie an ihren Fingernägeln, biss sich auf die Unterlippe und verlagerte unruhig ihre Sitzposition. Schließlich stöhne sie geschlagen. »Also gut!« Ihre Hände legten sich vor ihr Gesicht, wodurch ihre Stimme gedämpft wurde. »Fahr zum Krankenhaus.«

Der Stein, welcher Tristan in diesem Moment vom Herzen fiel, hatte mindestens die Größe des Mount Everest. Wärme rauschte über seinen Körper und er lehnte sich an Lucius' Seite, um seinem Herzschlag zu lauschen. Das Auto fuhr in Richtung Krankenhaus. Endlich.

Melissa kaute unruhig auf ihrer Unterlippe. »Hoffen wir nur, dass Alois nicht selbst auf die Suche nach ihm geht.«

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