Kapitel 23: Pause

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(POV Tristan)

Als Fahrer des Wagens fragte Manuel unterwegs einige Male, ob sie wirklich auf der Suche nach einem Klon sind, und Melissa beteuerte immer wieder, dass sie sich versprochen hat. Als ihr Smartphone klingelte, bestand sie darauf, eine Pause bei der nächsten Tankstelle einzulegen.

Während Manuel den Wagen tankte, schlenderte Tristan durch den Verkaufsraum und hielt erst Ausschau nach Schokolade, dann nach Zeitschriften. Er musste Zeit schinden, damit Lucius und Merlin sich vorbereiten konnten. Im besten Fall versteckten sie sich im Keller und warteten, bis er zurückkehrte. Ob er ihnen das schreiben sollte? Auf die Idee würden sie schon selbst kommen, oder?

Er nahm ein Magazin über Fotografie aus dem Aufsteller und blätterte darin. Anstatt hineinzusehen, beobachtete er seine Schwester, welche am Rand der Tankstelle stand und telefonierte. Irgendwer hat sie angerufen und sie hat es kaum abwarten können, so weit wie möglich außerhalb der Hörweite ihrer Begleiter zu sein. Bestimmt ging es um Lucius und sie wollte verhindern, noch einmal in Manuels Gegenwart das Wort Klon auszusprechen. Oder verheimlichte sie etwas vor ihm, ihrem eigenen Fleisch und Blut? Er schmunzelte. Selbstverständlich tat sie das, sie haben sich seit Jahrzehnten nicht gesehen.

»Soll ich die mitbezahlen?«, fragte Manuel und tippte im Vorbeigehen auf die Zeitschrift in Tristans Händen.

Er zuckte zusammen und klappte das Heft zu, um es wegzulegen. »Nein, ich äh ...« Melissa sah aus, als würde sie lachen. »Äh, ich nehme...« Er griff nach einem anderen Heft und legte es Manuel in die Hand. »Bezahl das mit, ja?« Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er, wie Melissa das Smartphone senkte und darauf herumtippte. Verdammt nochmal, was tat sie da?

»Sicher?«, brummte Manuel und wedelte mit dem Heft vor Tristans Gesicht herum.

»Hm?« Er löste seine Aufmerksamkeit von seiner Schwester und blinzelte Manuel irritiert entgegen.

»Sicher, dass ich dieses Heft kaufen soll? Wir können bestimmt einen Zwischenstopp in einem gewissen Lokal einlegen, wenn es gerade dringend ist.«

»Gewisses Lokal?« Tristan senkte den Blick zu dem Heft in Manuels Händen. Riesige Brüste prangten auf dem Cover, zu denen nicht einmal ein Gesicht abgebildet wurde. Hatte er ausgerechnet nach einem Pornoheft gegriffen, wie in jeder billigen Sitcom, in der andauernd solche Gags passierten? Mit aufgerissenen Augen zog er das Heft aus Manuels Hand, um es in die Ablage zurückzustecken. »Ach du scheiße«, zischte er. »Vergriffen, ich wollte das hier nehmen.« Um im Kontrast möglichst harmlos zu erscheinen, wählte er das Mickey Maus Magazin.

Manuel nahm es schmunzelnd entgegen.

Im Auto löste Tristan das Extra, eine kleine Taschenlampe, aus dem Heft, während er seine Schwester beobachtete. Sie tippte noch immer auf ihrem Smartphone herum.

Manuel startete den Motor und sah sie erwartungsvoll an. »Also, wohin jetzt?«

Melissa grinste vielsagend. Ihre Augen funkelten im Rückspiegel ihrem Bruder entgegen. »Zurück. Die beiden wohnen in seiner Stadt.«

»Das ist nicht wahr«, keuchte Tristan. Ihm fiel beinahe die Fingertaschenlampe aus der Hand, die ihm sein neues Mickey Maus Heft beschert hatte.

»Ach nein?« Sie drehte sich um und legte ihr Smartphone auf seine Oberschenkel. »Und warum sieht dieser Teenie dann genau so aus wie Zita?«

Tristan starrte mit offenem Mund auf das Internetprofil, welches sich vor ihm erstreckte. Es war eine Seite in einem sozialen Netzwerk. Merlin Denecke stand in dicken Buchstaben neben einem Foto von ihm. Er saß auf einer Bank und ... frühstückte? War das in der Schule entstanden?

»Die Beiträge handeln fast nur davon, dass das Kind intergeschlechtlich ist. Bei den Infos steht, auf welche Schule es geht und diese befindet sich zufällig ganz in der Nähe von deinem Wohnhaus.« Melissa schüttelte den Kopf. Ihre Mimik wirkte enttäuscht verkrampft. »Eine Schande, dass du mich angelogen hast.«

»Ich hab nicht-« Tristan starrte das Foto von Merlin ungläubig an. Warum hat er sich ein öffentliches Profil erstellt, ohne darüber mit ihm oder Lucius zu reden? Er sortierte immer wieder seine Gedanken, aber er war zu sprachlos, um Melissa etwas zu entgegnen. »Es ist Zufall, dass er ihr ähnlich sieht.«

»Er sieht ihr nicht nur ähnlich«, schnalzte Melissa, nahm ihr Smartphone zurück und zoomte an Merlins Gesicht heran. »Er ist eine exakte Kopie von ihr. Na ja ... Zumindest fast.«

»Kopie?« Manuel richtete sich auf und löste kurzzeitig den Fokus von der Straße. »Also doch ein Klon?«

Seufzend steckte Melissa das Smartphone in ihre Tasche. »Stell keine Fragen und fahr zurück.« Sie funkelte ihrem Bruder unheilvoll entgegen. »Wir müssen die Sache in Ordnung bringen.«

»In Ordnung bringen«, wiederholte Tristan kopfschüttelnd und sah Manuel eindringlich an. »Ist dir klar, was sie damit meint?«

Der Fahrer zuckte mit den Schultern und wendete den Wagen bei der nächsten Gelegenheit. »Solange ich bezahlt werde, tue ich, was man mir sagt.«

»Schon klar«, knurrte Tristan und zückte sein Smartphone, um eine Nachricht an Lucius zu schreiben. Es blieb ihm keine Gelegenheit, eine lange Erklärung zu liefern, denn Melissa beobachtete ihn über den Seitenspiegel. Deshalb tippte er schnell und ohne auf das Display zu schauen:

Versteckt euch im Labor

Hoffentlich las Lucius die Nachricht rechtzeitig. Und hoffentlich würden Melissa und Manuel aufgeben, wenn sie im Haus nicht fündig wurden. In Ordnung bringen konnte nur eines bedeuten: Wenn niemand davon erfahren sollte, dass illegal Menschen geklont wurden, dann mussten die lebenden Beweise für die Existenz von Klonen beseitigt werden.

Melissa würde Merlin und Lucius umbringen.

UnmelodieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt