Kapitel 25: Carla

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(POV Merlin)

»Warte!«

Mit dem Wind erreichte eine Stimme Merlins Ohr. »Bitte warte!« Sie klang aufgebracht und gehörte zu einer Frau.

Der friedliche Schleier fiel von dem Jungen ab. Zweifel überschwemmten ihn mit einem Mal und seine Hände krallten sich in den blättrigen Lack des Brückengeländers. Er starrte enttäuscht nach vorne und konnte noch nicht fassen, dass er nicht gesprungen war. Es hätte längst vorbei sein können. Hinter sich spürte er eine Präsenz, aber er wagte nicht, sich umzudrehen und sie anzusehen.

»Hilft es dir, mit jemandem zu reden?«

Merlin schloss seine Augen. Er kannte die Stimme nicht und war sich unsicher, ob er überhaupt antworten sollte.

»Du bist noch so jung. Warum...«, die Frau stutze. »Warum bist du an diesen Punkt in deinem Leben gelangt?« Anstatt ihr eine Antwort zu geben, spürte Merlin wieder Tränen in sich aufsteigen. Er schämte sich. Warum hat er nicht einfach losgelassen? Noch bestand die Chance.
»Du bist zu wichtig, um aufzugeben.« Die Frau wurde ruhiger. »Bitte überlege es dir.«

Merlin löste seine linke Hand und griff damit um seinen Körper, womit er dem Abgrund seinen Rücken zukehrte und das Geländer wieder vor sich hatte. Er hob seinen Blick und sah in ein braunes Augenpaar. Es gehörte zu einem besorgten Gesicht. Die junge Frau war etwas älter als er selbst. Vielleicht war sie 19 oder höchstens 20 Jahre alt. Sie hatte langes schwarzes Haar, welches nur unwesentlich dunkler war, als ihre Haut. Zumindest auf einer Seite ihres Kopfes fiel ihre Frisur in Wellen über ihre Schulter. Die andere Seite war kurzgeschoren. Ihre Mimik entspannte sich langsam, während sie ihre Hand nach Merlin ausstreckte und ihm über das Geländer half.

»Bin ich froh.«

Sie trug einen schulterfreien Pullover und eine Hose mit zerrissenen Stellen an den Knien und unterhalb ihrer Oberschenkel. Missgünstige Personen hätte im Anbetracht ihrer kurvigen Erscheinung angemerkt, dass sie es sich nicht leisten konnte, derart knappe Kleidung zu tragen, aber sie wirkte selbstbewusst und schien ihr Outfit gerne zu tragen. Dadurch, dass es so viele offene Stellen auswies, präsentierte sie unzählige Tattoos, die im ersten Moment unkoordiniert wirkten. Ihre Lippen waren dunkel geschminkt und sorgten dafür, dass ihr Mund sich vom Rest ihrer warmen Gesichtsfarbe abhob. Merlin kletterte mühselig über das Geländer und erst als er sich wieder auf der sicheren Seite der Brücke befand, entspannte sich das Gesicht der Fremden endgültig. »Mein Name ist Carla«, stellte sie sich vor. »Wie geht es dir?«

Da er seinen Ohren nicht wirklich trauen wollte und seine sonstigen Sinne ihm auch nicht die zuverlässigsten Signale lieferten, stieß Merlin die junge Frau abweisend von sich. Er stapfte einige Schritte zurück. »Es geht mir furchtbar!«, schrie er sie an, obwohl er das eigentlich nicht wollte. Eigentlich wollte er freundlich sein, denn sie war es auch. »Warum hast du mich aufgehalten? Es hätte längst vorbei sein können!« Obwohl er sich innerlich so geladen fühlte, wie niemals zuvor, fühlte es sich befreiend an, die Wut loszuwerden. Auch wenn er dafür eine Wildfremde anbrüllen musste. Er legte seine Hände an seinen Kopf und kehrte ihr den Rücken zu.

Carla ließ die Situation einfach über sich ergehen. Ihre Mimik war entspannt und sie verharrte geduldig auf einer Stelle.

»Ich kann doch jetzt nicht weiterleben!« Merlin vergrub sein Gesicht in seinen Handflächen. »Wie soll ich das schaffen?!« Zwischendurch stieß er Fluchworte aus. Irgendwann stockte seine Stimme, ehe sie in ein Schluchzen mündete und völlig verstummte.

Carla atmete tief durch und schritt langsam auf ihn zu. Er stand mitten auf der stillgelegten Brücke und weinte bitterlich. Behutsam legte sie ihre Hand an seinen Rücken und klopfte ihm sachte dagegen.

UnmelodieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt