Kapitel 13: Alte Freunde

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(POV Lucius)

Lucius saß in seinem Arbeitszimmer auf einem Sessel und blätterte in einem Buch. Es war sein Lieblingsroman »Die Schatzinsel«, von Robert Louis Stevenson. Er griff immer danach, wenn er sich in ferne Welten träumen oder den Alltag vergessen wollte. An diesem Tag gelang ihm das nicht. Die Gesprächsthemen und Ereignisse des Vortages spielten sich immer wieder in seinen Gedanken ab. Merlins Aussage über das Klonieren und seine Klage darüber, dass sich seine Mitschüler über ihn lustig machten. Es zerfraß ihn innerlich, dass er nicht wusste, was er für seinen Sohn tun konnte. Alle Lösungen, die ihm in den Sinn kamen, gingen damit einher, dass er das Haus verließ, und das war unmöglich. Allein an diesem Tag hat er drei Mal im Flur gestanden, sich Schuhe angezogen und war kurz davor gewesen, nach draußen zu gehen. Vergeblich.

Kalter Schweiß und eine überwältigende Übelkeit haben ihn tiefer zurück in die schützenden vier Wände getrieben. Im fensterlosen Arbeitszimmer, nahe dem geheimen Bunkerraum überhäufte er sich nun mit Selbstvorwürfen. Immer wieder schnellte sein Blick zu dem Schrank, der die geheime Tür verhüllte. Ob Tristan im Bunker war und arbeitete? Vielleicht könnte er ihn damit beauftragen, die Schule aufzusuchen, um sich für Merlin einzusetzen. Aber war das nicht zu viel verlangt? Hat er nicht schon alles hergegeben, um sie an diesen Punkt in ihrem Leben zu führen? Das, was er für Lucius und Merlin aufgegeben hat, könnten sie ihm niemals zurückgeben. Sie standen in seiner Schuld und hatten kein Recht, ihn um weitere Gefallen zu bitten.

Es klopfte hinter dem Schrank und Lucius zuckte zusammen. Kurz darauf vibrierte sein Smartphone.

Tristan: Ich muss mit dir reden.

Lucius legte das Buch beiseite und widmete sich dem Schrank, um Zutritt zum Bunker zu erlangen. Während der Schrank mechanisch zur Seite fuhr, schloss er die Arbeitszimmertür ab, um zu vermeiden, dass Merlin die geöffnete Bunkertür vorfinden würde.

Auf der Treppe zum versteckten Zimmer stand Tristan und funkelte ihm erwartungsvoll entgegen. Sein Gesicht sah fahl aus und seine Stirn faltig. Der Alkoholrausch vom Vorabend hatte Spuren hinterlassen. Er trug wieder die gleiche Kleidung von gestern, oder trug er sie noch?

»Was ist los?«, fragte Lucius und schritt behutsam die Treppe hinab.

Tristan erhob erst das Wort, als sie sich mitten im geheimen Arbeitszimmer befanden. Die Computer waren hochgefahren und erfüllten den Raum mit elektrischem Summen. »Sie haben mich kontaktiert«, erklärte er mit gestresster Stimme und rieb sich die Nasenwurzel.

Lucius fasste an seine Brille, um sie zu richten. Diese Handlung war meistens unnötig, aber die beruhigte ihn. Als er nachhakte, kam seine Stimme einem Hauchen nahe. »Wer?«

»Du weißt wer.« Tristan lachte bitter auf. »Sie haben mir eine E-Mail geschrieben. Ich habe alle Programme gestartet, um den Standort unserer elektrischen Geräte zu verschlüsseln. Sie kennen meinen neuen Namen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie hier auftauchen.«

»Aber wie kann das sein?« Lucius spürte, wie sein Gesicht an Farbe verlor. Es wurde kalt und er verschränkte die Arme, um dem Gefühl entgegenzuwirken. »Nach so langer Zeit? Es kann doch nicht sein, dass sie immer noch nach dir suchen.«

»Sie suchen nicht nach mir«, schnaubte Tristan und ließ sich auf einen Bürostuhl fallen. Dieser rollte einige Meter nach hinten. Als er zum Stillstand kam, drehte sich der rothaarige Mann und stöhnte verzweifelt. »Sie suchen nach dir und wenn sie eins und eins zusammenzählen, dann wissen sie auch, wer Merlin ist.«

»Aber wenn sie nur wissen, wo du dich aufhältst, dann haben sie uns noch lange nicht gefunden, oder?«

Tristan schüttelte den Kopf. »Du bist manchmal süß«, wisperte er. »Keine Sorge. Sie werden mit Sicherheit nicht auf die Idee kommen, dass ihr im Nachbarhaus wohnt.«

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