Unmelodie

Kapitel 6: Shopping

(POV Merlin)

Die Wolken hatten die meiste Himmelsfläche bereits für sich beansprucht, als Merlin sich auf sein Fahrrad schwang, um seiner Verabredung mit Lorraine nachzugehen. Unterwegs begann es zu regnen. Kühle Tropfen verdampften auf dem aufgeheizten Teer der Straßen und verursachten einen sauren Geruch, der nur an warmen Tagen bei Regen entstand. Die Regentropfen legten sich sanft auf Merlins Hände und fühlten sich dort eiskalt an. Im Kontrast zu der spätsommerlichen Wärme, die zuvor noch geherrscht hatte, empfand er das Gefühl als angenehm. Innerhalb von wenigen Sekunden wurde aus dem leichten Niesel ein strömender Regen, sodass Merlin wie von alleine stärker in die Pedale trat. Die Reifen wirbelten das Wasser der Straße auf und zogen eine sprühende Fontäne hinter sich her. Die spritzenden Tropfen trafen seine Schuhe und schon bald spürte er, wie seine Socken sich mit Wasser vollsogen. Diesen Umstand ignorierend, steuerte der Junge die Innenstadt an.
Er umgriff seine durchnässte Tasche und schleppte sich mit nassen Füßen zum Treffpunkt, an welchem Lorraine bereits auf ihn wartete. Sie stand vor einem Café unter einem Vordach aus Stoff und winkte ihm zu. Merlin winkte zurück und als er neben ihr stand, schob er die Mütze seiner Regenjacke von seinem Kopf. Seine Haare waren feucht und klebten an seinem Kopf.
Lorraine musterte ihn kurzzeitig, dann strich sie ihm durch das Haar und lächelte entschuldigend. »Lass uns schnell in einen Laden gehen.«

»Das ist eine gute Idee«, willigte er ein und wurde von ihr in den nächstbesten Klamottenladen geschleift. Als Lorraine dort in das Licht trat, stach ihre kunstvoll hochgesteckte Frisur ins Auge. Er ließ seinen Blick über ihre Haare gleiten und lächelte, als ihm das warme Gefühl wieder durch den Körper sprudelte. Es tauchte in letzter Zeit häufiger auf, wenn er sich in Lorraines Nähe befand. Sollte er ihr sagen, was in ihm vorging? Ihre Augen kamen durch die Hochsteckfrisur besonders zur Geltung. Sie leuchteten wie türkisblaue Glasscherben, die vom Meer glattgeschliffen worden sind und dadurch matt erschienen. Sie blinzelte und präsentierte damit ihre rosa geschminkten Lider.

»Wie viel Geld hast du dabei?«

»Zweihundert Euro«, antwortete Merlin krächzend. »Denkst du, dafür finden wir etwas gutes?«

Lorraine grinste. »Aber hallo! Damit machen wir einen ganz neuen Menschen aus dir.«

Merlin zog die Lippen kraus. War das wirklich nötig? Musste er zu einem neuen Menschen werden? Ein Augenblick war den Grübchen in Lorraines Mundwinkeln gewidmet. Sein Bauch wurde von Wärme geflutet. Ja, unter bestimmten Umständen war es nötig. Wenn er ihr dann ein bisschen besser gefiel, dann konnte er das Risiko, sich selbst zu verlieren, eingehen.

Während sie die Auswahl des, wie Lorraine ihn nannte, Klamottenladens durchforsteten, erwischte sich Merlin dabei, wie er sie immer wieder von oben bis unten musterte. Ebenso wie das, was sie selbst trug, sahen auch die Anziehsachen, die sie ihm empfahl, toll aus. Nichts davon passte zu seinem eigenen Stil und die wenigsten Teile gefielen ihm wirklich, aber das war wohl der Preis, den er zahlen musste, um dazuzugehören. Um sich einem Upgrade zu unterziehen, wie Lorraine es genannt hatte. Das war harmlos. Damit blieb er sich selbst treu. Oder?

»Sag mal, stört es dich, wenn wir kurz bei den BHs gucken?« Die Frage ging beiläufig über ihre Lippen, aber sie sah Merlin nicht an, während sie sie stellte.

»Nein«, entgegnete er mit gerunzelter Stirn. Warum sollte ihn das stören? »Du kannst dich gerne umsehen, wo du möchtest. Wo wir schon Mal hier sind.«

Lorraine marschierte zur Unterwäscheabteilung. »Hattest du schon Mal einen an?« Nun sah sie doch in seine Richtung.

»Einen BH?«, platzte es aus Merlin heraus. »Wie ... also, wie kommst du denn auf diese Idee?« Seine Ohren wurden heiß und das breitete sich über seine Wangen aus, bis sich sein Kopf anfühlte, als würde er in einem Backofen stecken. Ahnte sie etwas von seinem Geheimnis? ... Nein, das war unmöglich.