Kapitel 2: Magic Man

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(POV Lorraine)

Jeden Abend, wenn Lorraine vor dem Badezimmerspiegel stand, inspizierte sie ihre Gesichtshaut millimetergenau. Jedes Abschminktuch offenbarte ein Minenfeld aus Entzündungen. Das war ihre persönliche Problemzone. Je länger sie die einzelnen Poren begutachtete, desto mehr Verunreinigungen stachen ihr ins Auge. Rote Erhebungen und grobes Narbengewebe verhöhnten sie in ihrem pubertären Gefühlschaos. Sie hasste es, ein Teenager zu sein. Sie drückte an einem der Pickel herum und dachte dabei an den seltsamen Jungen vom Schulhof. Merlin. Mit seinen beneidenswert langen Wimpern und der makellosen Haut. Er hatte ein Gesicht wie aus Porzellan und sah nicht nur deshalb unverschämt fehlerfrei aus. Seine Kinnpartie war schmal und er hatte feminine Gesichtszüge. Wenn sie es nicht besser wüsste, dann hätte Lorraine behauptet, dass Merlin ein hübscheres Mädchen war als sie. Mit seiner pickelfreien Porzellanvisage. Wie aufs Stichwort begannen die roten Entzündungen in ihrem eigenen Gesicht noch mehr zu glühen. Wie eine Alarmleuchte. Sie machten sich lustig über sie. Haha. Du bist ein Teenie und dein Körper wird immer ekeliger. Lorraines Hände ballten sich zu Fäusten. Wenn Merlin in ihrem Alter war, warum sah er dann nicht auch so aus?

»Brauchst du noch lange im Bad?«, klang die Stimme ihres Bruders gedämpft durch die dünne Holztür. Kurz darauf erlosch das Licht im Badezimmer und ein gehässiges Kichern folgte.

»Sehr witzig«, stöhnte Lorraine, die nicht zum ersten Mal im dunklen Badezimmer stand. Wer auch immer sich ausgedacht hat, die Lichtschalter eines Raumes außen anzubringen, musste ein Idiot gewesen sein. »Mach's wieder an!«

»Dann beeil dich.«

»Ich kann mich nicht beeilen, wenn das Licht aus ist.«

Kaum hatte sie das ausgesprochen, schon leuchtete die Deckenlampe wieder. Und das pickelbeladene Gesicht starrte ihr aus dem Spiegel entgegen. Sie schmierte eine Tinktur darüber und hoffte, dass sie diesmal einen Effekt erzielen würde. Solche Produkte waren Geldverschwendung. Seufzend ließ sie vom Waschbecken ab, um die Tür zu entriegeln. Ihr Bruder drängelte sich an ihr vorbei und beschlagnahmte das Badezimmer für sein abendliches Ritual.

Als sie in ihren Betten lagen, schwiegen die Zwillinge. Sie teilten sich ein Zimmer, schon so lange sie denken konnten. Eigentlich waren ihre Eltern extra in eine größere Wohnung gezogen, damit jeder von ihnen ein eigenes Zimmer hätte, aber sie haben entschieden, das zweite Jugendzimmer für ihre Hobbys zu nutzen und sich das andere zum Schlafen zu teilen. Zwei Computer, ein Fernseher, eine Sitzecke, eine Art begehbarer Kleiderschrank und ein Bereich für Sport ließen keinen Platz für ein Bett im anderen Zimmer. Chester war schon seit Ewigkeiten in einem Karatekurs und nutzte den Raum meistens zum Trainieren. Und Lorraine? Sie hatte laut eigener Aussage keine Hobbys. Wenn sie Freundschaftsbücher ausfüllen sollte, dann schrieb sie an die entsprechende Stelle immer »Freunde treffen« und »Shoppen«.

»Sag Mal, was hältst du von dem Neuen?« Lorraine umspielte die Ohren ihres Kuschelhasen, während sie nachdenklich in Richtung Fenster sah. Ohne Mr. Zähnchen konnte sie nur schlecht einschlafen. Er war genau so alt wie sie und gehörte ins Bett. Wenn sie aber jemand danach fragte, dann war ihr Bett schon lange Stofftier-freie Zone. In ihrem Kleiderschrank gab es eine Ecke, die der Hase regelmäßig aufsuchen musste, wenn Besuch im Haus war. Da ging Lorraine lieber auf Nummer sicher.

»Du meinst Magic Man?« Chester lachte. »Du hast in der Pause lange mit dem gequatscht.« Letzteres war eher eine Frage, als eine Feststellung. »Wie biste denn auf die Idee gekommen?«

Lorraine weitete die Augen. »Der ist auf dem Boden herumgekrabbelt und vor ihm war eine gigantische rote Pfütze. Ich dachte, er hätte sich die Pulsadern aufgeschlitzt.« Sie umklammerte Mr. Zähnchen fester. »Erst als ich ihn angesprochen habe, wurde mir klar, dass es Tee war. Wer zur Hölle trinkt denn Tee?«

UnmelodieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt