Kapitel 31: Alois

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(POV Merlin)

»Du siehst genau so aus wie sie«, brummte der alte Mann, der nicht damit aufhören konnte, Merlin von oben bis unten zu mustern. Dabei strahlten seine Zähne vor lauter Grinsen. In seinen Augen ließ sich etwas Gegensätzliches entdecken: Reue? Oder Verunsicherung? Offensichtlich bemühte er sich, selbstbewusst zu wirken, im Anbetracht des Ebenbildes seiner verstorbenen Tochter. Es gelang ihm kaum.

»Ich bin nicht sie«, entgegnete Merlin nüchtern und trat einen Schritt vor dem Mann zurück. Er sah Lucius ähnlich und das schürte einen Knoten in der Magengegend des Teenagers. In ein paar Jahren würde sein Vater ganz sicher genau so aussehen wie dieser Mann. Sie waren wie Zwillinge, die mit Verzögerung geboren worden waren. Wider der Natur. Wenn Alois sich ihm gegenüber nur halb so merkwürdig fühlte, wie Merlin, dann konnte er verstehen, warum er sein Grinsen nur so schwerfällig aufrecht erhalten konnte. Sie erkannten ineinander liebgewonnene Personen.

»Leider«, seufzte Alois und machte einen halben Schritt nach vorne. Seine Pupillen tasteten über Merlins Gesicht, bis sie bei seinem Bauch verharrten. »Hast du Schmerzen?«

Merlin reagierte mit einem Kopfschütteln. Natürlich hatte er Schmerzen, die Brandwunde zehrte an seinem Bewusstsein. Aber war es schlau, sie ihm gegenüber zuzugeben? Er wollte etwas sagen, aber mit jeder Minute überwältigte ihn die Situation mehr. Buchstaben verklumpten in seinem Mund zu Brei und Gedanken verloren sich wie Sterne im endlosen All. Vor ihm stand Lucius, der nicht Lucius war. Wie sollte er damit umgehen?

»Ähm«, äußerte Carla und stellte sich neben Merlin. »Ist alles in Ordnung?« Sie sah die beiden abwechselnd an. »Kann ich ... irgendetwas tun?«

»Unbegreiflich, dass ich dich beseitigen wollte«, raunte der alte Mann und kam noch einen Schritt auf den Teenager zu. »Es wäre eine Schande gewesen. Du ... bist ihr Ebenbild.«

»Ich bin ein Junge«, zischte Merlin verteidigend und wich weiter zurück.

»Nein«, brummte Alois. Sein Gesicht verzerrte sich. »Du solltest einer werden, aber das hat nicht ganz funktioniert.« Er seufzte. »Ich hielt es für eine Schande, aber ... es ist passend, oder? Du kannst ein Mädchen sein und Zita zurückbringen.«

»D-das geht nicht«, widersprach Merlin hilflos und machte seinen nächsten Schritt in Carlas Richtung. »Ich bin Merlin.« Er griff in seine Bauchtasche. »Zita lebt nicht mehr!«

Für einen Sekundenbruchteil zuckte Schmerz über das Gesicht des alten Mannes. Er rümpfte die Nase und trat mit einem großen Schritt auf Merlin zu. »Du bist wie sie!«

»Hey!« Carla stellte sich schützend vor Merlin. »Ich bin vermutlich die letzte, die eine Ahnung davon hat, was hier läuft, aber ... Sie sollten besser verschwinden.«

Alois lachte mit rasselndem Atem. Er widmete Carla eines abschätzenden Blickes und sah anschließend in Merlins Augen.

Dieser umspielte das Medaillon in seiner Tasche. »Ich weiß erst seit kurzem, was ich bin.« Das Zittern in der Betonung konnte er nicht unterdrücken. Mit einer langsamen Bewegung zog er das kleine Schmuckstück heraus, um es Alois entgegenzuhalten.

»Ein Klon«, sagte dieser, als würde er Merlins Aussage damit beenden wollen. Sein Augenmerk galt dem Medaillon. Seine Hand zuckte. Ob er mit dem Gedanken spielte, es entgegenzunehmen?

Merlin hielt es ihm hin. Er legte ein friedliches Lächeln auf seine Lippen. Ein Friedensangebot. »Sie können es haben.«

Alois öffnete den Mund, im Begriff etwas zu sagen. Stattdessen streckte er seine Finger aus, ließ die Kuppen über Merlins Handflächen streifen, doch er nahm das Medaillon nicht in die Hand. Stattdessen griff er nach dem Arm des Teenagers, um ihn näher an sich heranzuziehen. Er lehnte sich vor, bis sein Mund sich neben Merlins Ohr befand. »Du duftest sogar nach ihr.« Seine Hand umklammerte den dürren Arm fest, zu fest, es zwiebelte und Merlins Hand begann zu kribbeln.

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