Kapitel 21: Wahrheit

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(POV Lucius)

»Was musst du mir erzählen?« Merlin schälte sich langsam aus der Umarmung und blinzelte seinem Vater erwartungsvoll entgegen.

Lucius schob seine Hand in die Hosentasche und berührte das Medaillon mit den Fingerkuppen. »Es geht ... um-« Er schüttelte sich. Seine Zunge fühlte sich an wie ein unförmiger Knetklumpen. Warum konnte er nicht einfach erzählen, was los war?

»Um?« Merlins Augenmerk zuckte zu der Hosentasche.

Lucius zog seine Hand hervor und hielt ihm das Medaillon entgegen. Es baumelte an einer silbernen Kette zwischen den Augen des Jungen. »Um deine Mutter.«

»Mutter?«, hauchte Merlin mit tonloser Stimme. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine Falte. »Ich habe keine Mutter.«

»Hm.« Lucius nickte und hielt das Medaillon über Merlins Hände, um ihm anzudeuten, es zu nehmen. »Ich habe dir nur nie von ihr erzählt. Die Sache ist kompliziert.«

»Achja?« Merlin streckte seine Hand aus und berührte das silberne Schmuckstück mit den Fingerkuppen. Er zog sie zurück und sah seinen Vater an. »Ich weiß nicht, ob ich gerade irgendwelche komplizierten Geheimnisse verkraften kann.«

»Aber du musst!«, platzte es aus Lucius heraus. Im Anbetracht der Situation, vor welcher Tristan sie in diesem Augenblick zu bewahren versuchte, musste er wissen, warum Menschen hinter ihnen her waren. »Ich verschweige das schon viel zu lange.«

Merlin sank seufzend zusammen. Er nahm das Medaillon entgegen und betrachtete es von allen Seiten. Dabei wirkten seine Augen matt. Beide Mundwinkel zuckten immer wieder nach unten. »Ich wollte eigentlich über die Opera-« er schüttelte sich. »Ne, schon gut.« Er lächelte gezwungen. Als er den Blick anhob, glitzerten Tränen in seinen Augen. »Darüber rede ich mit Tristan.« Seine Brauen zogen sich zusammen und sein Blick schweifte sehnsüchtig zum Fenster. »Sofern er überhaupt nochmal mit uns redet.«

»Hör mal, es ist nicht so, dass er nicht mit uns reden möchte«, begann Lucius stammelnd und folgte dem Blick zum Fenster. »Er hat keine Wahl.« Ein tiefer Atemzug brachte die schwierigsten Sätze mit sich, die Lucius jemals über seine Lippen gebracht hatte: »Weißt du, Merlin ... ich bin nicht wirklich dein Vater, weil ich nicht wirklich ein ... richtiger ... Mensch bin.«

Ehe Lucius fortfahren konnte, wich Merlin vor ihm zurück. Mit riesigen Augen musterte er ihn, Entsetzen strömte aus seinem Blick. »Wie jetzt?«

Lucius hob beschwichtigend seine Hände. »Ich habe dich immer geliebt wie einen Sohn, auch wenn wir nicht miteinander verwandt sind.« Die Silben stolperten aus ihm heraus. Sein Herz schlug schneller, im Anbetracht des Unverständnisses, das ihm entgegen stieß. Merlin begriff offenbar nicht, was das bedeutete. »Es gibt für alles eine Erklärung. Ich ... h-habe alles zusammengefasst. In einem Dokument, im Keller. Es gibt einen Computer, auf dem findest du alles. Die ganze Wahrheit, alle Worte, die ich nicht aussprechen kann. Ich-«

»M-moment«, fiel ihm Merlin ins Wort. Er rieb sich über die Stirn. »Es gibt hier einen Keller?«

Lucius nickte. »Er ist mit Tristans Haus verbunden. Es ist unser Labor. Tristan ist nicht zufällig unser Nachbar, du musst wissen, dass wir ihm viel zu verdanken haben. Wir sind ... als du noch ein Baby warst, haben wir ...« Der Rest der Wahrheit steckte in seinem Hals fest. Lucius stiegen Tränen in die Augen, vor Wut darüber, dass er nicht vernünftig sprechen konnte.

Merlin schüttelte immer wieder den Kopf. Seine Mimik wechselte von Überforderung zu Ablehnung und endete bei Nüchternheit. In einem langsamen Bewegungsablauf hob er das Medaillon an. »Und das hat meiner Mutter gehört?«

»Wenn du es öffnest, wirst du ein Passwort finden. Ich weiß, ich sollte es dir einfach sagen, aber ich kann die Worte nicht aussprechen. Ich ... kann einfach nicht.« Lucius wich Merlins Blick aus. Er seufzte. Wie konnte man nur so ein erbärmlicher Mensch sein? Noch einmal setzte er zum Sprechen an, aber die Wahrheit, die Merlin hören musste, blieb in seinem Hals stecken. Stattdessen sagte er: »Die Informationen sind nicht leicht zu verdauen. Bitte ... lies sie nur, wenn du dich dafür bereit fühlst.«

Merlin nickte. Seine Miene war weiterhin nüchtern. Während er das Medaillon zwischen seinen Fingern tanzen ließ, sprangen seine Pupillen zwischen Lucius' umher. Mit monotoner, gebrochener Stimme, entließ er ein Stöhnen. »Du bist nicht mein Vater?« Offenbar begriff er erst jetzt, was aus dem Gespräch hervorgegangen ist.

Lucius schluckte, setzte zum Kopfnicken an und weitete die Augen, als Merlin aufstand und das Zimmer verließ. »W-warte, du musst in den Keller gehen, du m-musst...« Er stand ebenfalls auf, um ihm zu folgen.

Im Flur drehte sich Merlin um, mit roten Gesicht und tränenbenetzten Augen. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, schluchzte er. »Wenn du nicht mein Vater bist und ich kein Junge bin und niemand mich in seiner Nähe haben will ... wer, ja ... wer bin ich dann überhaupt?!« Seine Stimme brach. Er rannte die Treppe nach unten, zur Haustür und nach draußen.

Lucius verharrte am Treppenabsatz und starrte auf die offenstehende Haustür. So verzweifelt hat er Merlin noch nie erlebt. Sein Magen zog sich zusammen. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit. Wenn er sich jetzt nicht überwinden würde, dieses Haus zu verlassen, dann würde er Merlin ganz sicher nie wieder sehen.

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