Kapitel 5: Das Arbeitszimmer

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(POV Lucius)

Ein konstantes Surren schwängerte die Luft. Hohe Servertürme mit bunten Kabelsalaten und leuchtenden Anzeigen säumten eine Seite des Raumes. Davor befanden sich Konsolen mit Tasten und Reglern. Auf der anderen Seite stand ein Schreibtisch, umgeben von Regalen, die vor lauter Büchern zusammenzubrechen drohten. Lucius saß dort, vor seinem Laptop und versuchte sich in seine Arbeit zu vertiefen. Die Zahlen auf dem Bildschirm verschwammen, sodass er irgendwann seine Brille abnahm, um sich die Augenlider zu reiben. Wie lange saß er schon hier? Die Uhr am unteren Bildschirmrand verriet, dass es schon Nachmittag war. Merlin würde bald aus der Schule kommen.

»Merlin kommt besser klar, als erwartet, oder?« In einem von zwei Türrahmen stand ein rothaariger Mann und beobachtete Lucius mit einem verschmitzten Grinsen im Mundwinkel. Tristan. »Alle Sorgen waren umsonst. Er scheint Anschluss gefunden zu haben.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob die Sorgen umsonst waren«, erwiderte Lucius ernst. Er schob die Brille zurück auf seine Nase. »Er hat sich in die Hand geschnitten und mir bisher noch nichts davon gesagt. Wahrscheinlich denkt er, es wäre mir nicht aufgefallen. Er fängt an, Dinge vor mir zu verheimlichen. Ich sollte mir etwas einfallen lassen, um ihn zu bestrafen, oder? Immerhin ist es nicht gut, wenn er mit Lügen davonkommt.«

»Woah, woah!« Tristan löste sich vom Türrahmen und ging auf Lucius zu. Hinter dem Bürostuhl blieb er stehen, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen. Sein sommersprossiges Gesicht brachte die hellblauen Augen zum Leuchten. Er grinste immer und wirkte dadurch vorwitzig, auch dann, wenn er eigentlich ernst genommen werden wollte. Dass der rothaarige Mann bereits über 50 Jahre alt war, glaubte ihm niemand. »Übertreib nicht direkt. Er hat doch keine Strafe verdient, nur weil er nicht mit jeder kleinen Verletzung zu dir kommt. Er ist schon 15 Jahre alt.« Er stutzte und legte die Stirn in Falten. »Wahnsinn. Es ist wirklich schon so lange her.« Zuletzt lag ein andächtiger Schleier über seiner Stimme.

»Hmhm«, machte Lucius und löste den Blick vom Bildschirm, um Tristan anzusehen. »Hast du es jemals bereut?«

»Niemals. Es war das richtige.«

Lucius lächelte dankbar. Dann zog sich ein Unwetter in seinem Magen zusammen. »Denkst du wirklich, dass Merlin da draußen zurechtkommt?«

»Tu nicht so, als hätte ich nicht mein Bestes gegeben, ihn in die Gesellschaft zu integrieren.« Tristan wirkte eingeschnappt. Seine Augenbrauen wanderten nach oben, aber das Grinsen verharrte in seinen Mundwinkeln. »Er hatte nie ein Problem mit anderen in Kontakt zu treten, wenn ich mit ihm draußen war.«

»Aber ist das bei Gleichaltrigen nicht etwas anderes? Vor allem ... in seinem Fall.« Lucius hatte keine Erfahrungen mit dem Leben außerhalb seines Hauses. Ferne Erinnerungen waren das einzige, was er mit dem Leben ›da draußen‹ in Verbindung brachte. Ein Labor und Menschen, die sich wie Eltern verhalten haben. Bis sie ihn umbringen wollten. An dieser Stelle beendete er seine Gedankenreise in die Vergangenheit. Sein Kopf schwenkte zu Tristan herüber. Der rothaarige Mann zuckte mit den Schultern. Wenn er nicht gewesen wäre, dann hätten die fremden Elternfiguren ihn getötet. Dr. Tristan Birnon hat sein Leben aufgegeben, um Lucius zu helfen. Er hat am Anfang seiner Karriere gestanden, alles aufs Spiel gesetzt und verloren. Um anderen zu helfen. Um ihm zu helfen. Und Merlin. Dafür konnte er ihm nicht genug danken.

»Das lernt er spätestens jetzt in der Schule.« Tristan deutete in Richtung Tür. »Apropos: Ich glaube er ist gerade reingekommen.« Während er sich auf die andere Tür zubewegte, salutierte er Lucius freundschaftlich zu. »Das bedeutet Feierabend. Wir sehen uns morgen.« Mit einem verabschiedenden Grinsen verließ er das provisorisch eingerichtete Labor, um in seinem Haus, direkt nebenan, zu verschwinden. Lucius hörte ein Poltern, als Tristan das Bücherregal von außen vor die Tür schob, um den Raum hinter seinem offiziellen Arbeitszimmer verschwinden zu lassen. Sie teilten sich den Keller, der nur über ihre jeweiligen Arbeitszimmer zu erreichen war. Außer Lucius und Tristan, wusste niemand, dass dieser Verbindungsraum existierte.

Er schloss das Programm, fuhr den Computer herunter und tat es seinem rothaarigen Nachbarn gleich. Er verschwand durch die andere Tür, betrat damit sein offizielles Arbeitszimmer und versteckte den Zugang zum Labor hinter einem Schrank. Erst als er sicher war, dass die Luft rein war, ließ er das Arbeitszimmer hinter sich, um Merlin zu begrüßen.

Der Junge stand in der Küche und summte leise vor sich her, während er sich etwas zu Essen auf dem Herd aufwärmte. Als er Lucius bemerkte, zuckte er leicht zusammen. »Oh. Hallo Papa ... eh.« Er blinzelte verlegen und wich seinem Blick aus. »Geht es dir gut?«

Lucius runzelte die Stirn. »Das gleiche wollte ich dich gerade fragen. Ist etwas vorgefallen?«
Merlin schüttelte den Kopf. Er rührte in dem Topf herum und biss sich auf die Unterlippe. »Ich fahre nachher in die Stadt. Ein-« er zögerte »Mitschüler hat mich gefragt, ob ich mitkomme.«
Lucius runzelte die Stirn. Ein Mitschüler? Warum hat das nach einer Lüge geklungen? Er log schon wieder. »Was habt ihr vor?«

Merlins Wangen nahmen eine rosa Färbung an. »Shoppen.« Das sagte er kleinlaut. »Ich brauche neue Anziehsachen. Kann ich vielleicht ... etwas Geld haben?«

»Also deshalb verhältsts du dich so.« Lucius lächelte. Seine Lippen fühlten sich verkrampft an. »Das ist doch kein Problem. Ich gebe dir gerne etwas. Deine Anziehsachen sind schon uralt, ich habe dir schon öfter vorgeschlagen, etwas neues zu kaufen, erinnerst du dich?«

»Ja, ja«, schnaubte Merlin augenrollend. »Aber ich mag diese Sachen. Sie sind genau wie die von Kurt Cobain.«

»Ach dieser Kurt Cobain.« Lucius watschelte kopfschüttelnd in das Arbeitszimmer zurück. »Weißt du, es ist nicht verkehrt, ein Idol zu haben. Aber es ist auch wichtig, sich selbst treu zu bleiben. Vielleicht findest du in der Stadt etwas, das dir gefällt, und was nicht zu einem Sänger gehört. Es ist an der Zeit, herauszufinden, wer Merlin ist, anstatt zu einem zweiten Kurt Cobain zu werden, findest du nicht?«

»Ich fühle mich in dieser Rolle eigentlich wohl.« Merlin folgte ihm, blieb aber im Türrahmen stehen. Er betrat das Arbeitszimmer nie. Diese einzige strenge Regel befolgte der Junge. Das Arbeitszimmer war Lucius' Raum.

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