Kapitel 26: Liebe

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(POV Tristan)

Immer wieder rüttelte Tristan mit bebenden Armen an den Schultern seines blutenden Sitznachbarn. Es war ein Akt der Verzweiflung, der ihn dazu trieb, Lucius wach zu halten. Er musste verhindern, dass er das Bewusstsein verlor. Vielleicht würde er ihn innerhalb der nächsten Sekunden das letzte Mal seine Augen zuschlagen sehen. Allein die Vorstellung schnürte ihm die Kehle zu. Das durfte auf keinen Fall passieren. Dass sie sich auf der Rückbank eines Autos befanden, blendete der rothaarige Mann aus, ebenso die Tatsache, dass seine Schwester genervt auf ihn einredete.

»Ich habe ganz sicher keine wichtigen Organe getroffen.« Sie verdrehte die Augen. Mit einer rollenden Handbewegung forderte sie den Fahrer dazu auf, schneller zu fahren. »Wir bringen ihn zum Labor, dort kümmern wir uns um alles.«

Mit bebendem Unterkiefer und brennenden Augen drehte Tristan seinen Kopf in ihre Richtung. Tränen quollen ihm in Augen und Nase, während er ein entsetztes Schnauben von sich gab. Den Drang zu weinen, unterdrückte er mit aller Mühe.  »Er darf nicht dorthin zurück!«

Melissa schüttelte den Kopf. Verständnislos rümpfte sie die Nase. »Er muss.« Sie zog die Augenbrauen zusammen, beinahe so, als wolle sie Mitgefühl ausdrücken. »Du weißt es ebenso wie ich. Eigentlich dürfte er nicht existieren.«

»Er hat sich das nicht ausgesucht«, knirschte Tristan und klatschte Lucius gegen die Wange. Mühselig öffneten sich dessen Augenlider und ein gequältes Lächeln breitete sich auf seinen blassen Lippen aus. »Wir haben ihn erschaffen.«

»Deshalb müssen wir uns darum kümmern.« Melissas Stimme strotzte vor Abneigung. Kümmern war in diesem Satz kein positiv behaftetes Verb.

Mit einem Mal bremste der Wagen. Alle Insassen klappten zuerst vornüber, ehe sie nach hinten in die Polster knallten.

Der Fahrer stoppte den Motor, zog den Schlüssel heraus und widmete den anderen einen unheilvollen Blick. »Okay«, grunzte er. »Wenn ich diese Karre auch nur noch einen Millimeter bewegen soll, dann erfahre ich jetzt gefälligst was hier läuft!«

Tristan öffnete den Mund, aber sämtliche Worte verkeilten sich in seinem Rachen. Sprachlos blinzelte er seiner Schwester entgegen.

Diese verschränkte ihre Arme und stieß ein tiefes Seufzen aus. Eine Antwort gab auch sie nicht von sich.

»Er ist wirklich ein Klon, nicht wahr? Die fadenscheinigen Erklärungen könnt ihr euch sparen.« Manuel deutete mit einem Kopfnicken in Lucius' Richtung. »Was sollte das bedeuten?« Er verstellte die Stimme und klang heller, wohl um Melissa zu imitieren. »Deshalb müssen wir uns darum kümmern.« Ein weiteres Mal veränderte sich seine Stimmlage. Diesmal klang er leise, beinahe andächtig. »Was habt ihr mit ihm vor?« Während er die Geschwister nacheinander ansah, breitete sich Sorge in seinem Blick aus.

Tristan und Melissa antworteten gleichzeitig, aber sie sprachen unterschiedliche Worte aus.

»Er muss in ein Krankenhaus«, stöhnte Tristan und griff instinktiv nach Lucius' Hand. Sie fühlte sich kalt an, also nahm er seine andere Hand zu Hilfe, um wärmend über die Finger des angeschossenen Mannes zu streichen.

»Wir müssen ihn beseitigen«, erwähnte Melissa in einer so kalten Betonung, dass es unheimlich war. Hatte sie wirklich kein Mitleid mit einem Menschenleben, das sie selbst einst ins Leben gerufen hat?

Ihr Bruder schüttelte den Kopf. Sein Augenmerk galt dem Fahrer und er legte sämtliches Flehen, das er aufbringen konnte, in seinen Blick. »Er weiß, dass er ein Klon ist. Und er weiß, worauf er achten muss. Sieh ihn dir an.« Er hob die Hand, welche er noch immer umklammerte in Manuels Sichtfeld.

Lucius ließ mit einem leisen Stöhnen verlauten, dass er wach war.

»Er ist ein Mensch. Er liebt das Leben und hat es nicht verdient, in einem Labor hingerichtet heimlich zu werden!«

»Hingerichtet«, wisperte Manuel schockiert und sah Melissa fragend an. »Werdet ihr ihn töten?«

Sie seufzte genervt. »Natürlich nicht. Aber wir müssen sichergehen, dass er sich nicht reproduzieren kann. Es ist uneinschätzbar, was passieren würde, wenn ein Klon mit einem normalen Menschen Nachwuchs zeugt. Er muss im Labor bleiben, wo wir ihn überwachen können.«

»Ich kann ...«, krächzte Lucius in leisen abgehackten Worten, »euch übrigens ... hören.« Er schmunzelte, was allerdings nur kurz anhielt. Innerhalb von Sekunden schwand seine Gesichtsfarbe und er stieß einen stotternden Atemzug aus. Die Hand, welche sich noch immer in Tristans Griff befand, verlor ihre Spannung und vermeldete, dass ihr Besitzer bewusstlos war.

Die Tränen, die schon seit Minuten in der sommersprossigen Nase kitzelten, bahnten sich endlich ihren Weg über die ebenso gesprenkelten Wangen. »Er stirbt!«, schrie Tristan und kletterte zwischen die Sitze, um Manuel den Schlüssel zu entreißen.

Es kam zu einem Handgemenge. Manuel beugte sich vor, um den Schlüssel außer Reichweite zu befördern. Tristan beugte sich so weit vor, dass sein Körper ziehende Schmerzen erlitt. Mit verkrampften Kiefer und nassen Wangen stammelte er immer wieder denselben Satz von sich:

»Fahr zum Krankenhaus!«
»Fahr zum Krankenhaus!«
»Fahr zum Krankenhaus!«
»Fahr zum Krankenhaus!«

Zuletzt sank sein Körper bebend in sich zusammen und er gab sich den verzweifelten Tränen hin. Noch einmal brachte er die Kraft auf, etwas zu sagen. Tiefe Atemzüge gingen mit dem Aufbäumen seines Oberkörpers einher. Zwischen den Vordersitzen stützte er sich ab, um Manuel und Melissa abwechselnd anzusehen. Er sammelte sich, um in klaren Worten die Botschaft zu übermitteln, die sich tief aus seiner Brust auf seine Zunge kämpfte:

»Ich liebe ihn.«

UnmelodieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt