(POV Lucius)
Lucius' Augen tränten, als sie dem grellen Licht ausgesetzt wurden, welches von der Neonröhre über dem Krankenhausbett ausging. Leises Surren kratzte in seinen Ohren und er rümpfte die Nase. Irgendwie roch es nach alten Socken. Aber auch nach ... Petersilie? Tristan duftete danach. Sein Herz machte einen Sprung und er zwang seine Lider auseinander, um zur Seite zu sehen.
Tatsächlich. Der Rotschopf war bei ihm. Als Lucius sich aufrichten wollte, ging ein schmerzhafter Zug durch seine Schulter. Er fiel ins Kissen zurück und stöhnte leidend.
Damit machte er Tristan auf sich aufmerksam. Das sommersprossige Gesicht hellte sich auf und er stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Du lebst!«
Lucius runzelte die Stirn. Stand jemals etwas anderes zur Debatte? Schleichend kehrte die Erinnerung zu ihm zurück. Eine rothaarige Frau hatte auf ihn geschossen. Melissa. Und da war noch jemand gewesen. Ein fremder Mann. Sie haben ihn mitnehmen wollen, um ihn aus der Welt zu schaffen. So gesehen, hat er sich tatsächlich in Lebensgefahr befunden.
»Wo sind wir?«, fragte er mit kehliger Stimme und räusperte sich, damit er deutlicher zu verstehen war. »Was ist passiert?«
Tristan fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. Seine schlanken, langen Finger, versanken in seinen roten Locken. Sie glitzerten im grellen Licht der Neonröhre. »Meine Schwester wollte dich zum Institut bringen.« Mit zusammengezogenen Augenbrauen senkte er die Stimme. »Alois sucht noch immer nach euch.«
»Alois«, wiederholte Lucius beinahe tonlos. Eine Gänsehaut rauschte über seine Arme. Er hatte gehofft, diesen Namen nie wieder hören zu müssen. Alois. Sein Ebenbild. Die Vaterfigur, die sich selbst nie als eine solche betrachtet hat. »Und warum sind wir jetzt in ... Ich nehme an, es ist ein Krankenhaus?«
Tristan nickte bestätigend. »Manuel, der Fahrer, ich weiß nicht, ob du dich an ihn erinnerst.« Mit seiner schmalen Hand machte er eine abwinkende Bewegung. Dabei wirbelte das vertraute Petersilie Aroma auf, mit einer Ahnung von Zitrone. Der Duft war heilsam. Es war ein Hauch von zuhause in der bedrohlich fremden Umgebung. »Ist eigentlich egal, ob du dich erinnerst ... Er hat Melissa überzeugt, stattdessen hierher zu fahren.« Tristan senkte den Blick zu Boden. Färbten sich seine Wangen rosig? Ein Lächeln grub sich in seine Mundwinkel. »Ich dachte, sie bringen dich zu ihm. Scheiße nochmal, ich hatte noch nie solche Angst.«
Lucius biss sich auf die Unterlippe, während er den Blick über die vertraute, wunderbare Erscheinung neben sich gleiten ließ. Tristan ahnte sicher nichts davon, wie perfekt er war. »Wo sind sie jetzt?«
»Draußen.« Der Rotschopf deutete zum Fenster.
Lucius nutzte den Moment, um sich im Raum umzusehen. Im Nebenbett lag ein Mann, der sich irgendetwas auf dem Smartphone ansah. In seinen Ohren steckten Kopfhörer, sein Kinn ruhte auf der Brust. Seine Augen waren geschlossen, offenbar ist er beim Filmgucken eingenickt.
»Sie wollten sich darum kümmern, Alois abzuwimmeln.« Ein stolzes Grinsen huschte über Tristans Lippen. »Sie werden ihm erzählen, dass sie euch nicht finden konnten.«
»Uns«, brummte Lucius gedankenversunken. Dann riss er die Augen auf. »Merlin!« Mit einem Ruck richtete er sich auf und ignorierte den Schmerz, der von seiner Schulter her pulsierte. »Wo ist er?« Plötzlich brachen die jüngsten Ereignisse über Lucius ein. Er hatte sich mit dem Jungen gestritten. Seitdem haben sie sich aus den Augen verloren. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war?
»Ich vermute er ist Zuhause, oder?« Tristan schien sich dessen nicht sicher zu sein. Er rutschte auf dem Stuhl herum und wich Lucius' eindringlichen Blicken aus.
»Nein, er ist nach draußen gerannt.« Die schrecklichsten Szenarien spielten sich vor Lucius' innerem Auge ab. Merlin hat sich vielleicht verlaufen, ist an seine Mitschüler, oder Sonstwen geraten, oder noch schlimmer ... Was, wenn er sich etwas angetan hatte?
»Er kann auf sich aufpassen«, versprach Tristan mild lächelnd und beugte sich vor, um seine Hand an Lucius' zu legen. »Ich bin mir sicher, dass es ihm gut geht.«
Exakt eine Nanosekunde später, stürmte Melissa in das Zimmer. Sie schlug scheppernd die Tür auf und riss den Bettnachbarn aus seinem Nickerchen. Dessen Smartphone rutschte von seiner Brust und knallte auf den Kunstharzboden.
Tristans Schwester nahm sich keine Zeit, um auf den Lärm einzugehen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und strotzten vor Alarmbereitschaft. Als sie die Stimme erhob, bebte jede Silbe:
»Alois hat Merlin entführt!«
Es dauerte keine Sekunde, bis Lucius aus dem Bett kletterte. Er krallte sich an Tristan fest, um auf dem kalten Boden die Balance zu finden. Die Proteste, die von dem Rotschopf ausgingen, ignorierte er. Nichts und niemand würde ihn davon abhalten, seinen Sohn zu retten.
Das schienen die Geschwister zu spüren, denn anstatt ihn aufzuhalten, hakten sie sich bei ihm ein und stützten ihn auf dem Weg nach draußen.
Wo auch immer sich Merlin befand, Lucius würde ihn suchen, finden und...
Er zuckte zusammen, als sich nicht allzu weit entfernt, auf einem Parkhausdeck zwei bekannte Silhouetten emporstreckten. Sie standen einfach nur da und schienen zu ihnen hinabzusehen. Im kargen Mondlicht waren ihre Gesichter nicht zu erkennen, aber es genügte ihre Körpersprache, um ihnen Identitäten zuzuordnen. Der kleinere Schatten gehörte zu Merlin. Mit herunterhängenden Schultern und leicht nach innen gedrehten Knien strahlte er seine übliche Unsicherheit aus. Der andere Schatten war unverkennbar Alois zuzuordnen. Überheblich, mit hervorschwellender Brust grinste er ganz sicher vor lauter Selbstgefallen.
»Da isser ja«, bemerkte Tristan altklug. »Gehen wir doch einfach mal davon aus, dass Alois auf ihn aufgepasst hat, damit wir ihn abholen und mitnehmen können?« Offenbar versuchte er, vorwitzig zu klingen, aber das gelang ihm kaum. Immer wieder driftete seine Stimme bebend ab.
Lucius machte einen Satz nach vorne, in seinem Inneren sammelte sich Frust an. Wie Kohlensäure sich in einer geschüttelten Colaflasche aufblähte, drohten seine Empfindungen in ihm zu explodieren. Er schluckte, verschluckte sich und stieß einen Schrei aus, der Tristan und Melissa zusammenfahren ließ. Die Ereignisse überforderten ihn, denn er sah sich der Katastrophe gegenüber, vor welcher er sein Leben lang flüchtete. Und das Schlimmste daran war: Merlin befand sich mitten im Fokus dieses Augenblickes.

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Unmelodie
Teen FictionWattys 2022 Winner - Kategorie: Young Adult Ich danke euch allen. Für lesen, empfehlen, abstimmen und kommentieren. Diese Auszeichnung bedeutet mir sehr viel. Danke. :) Update 12.04.2024: Es gibt schon wieder ein neues Cover für diese Geschichte. Di...