Kapitel 33: Melodie

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(POV Merlin)

Wochen waren vergangen, seitdem Merlin auf der Suche nach seinem Vater das Krankenhaus hatte aufsuchen müssen. Es fühlte sich an, als wäre es Ewigkeiten her, dass er in dem Parkhaus kollabiert war. Die Erinnerungen verschwammen und wurden zu Erzählungen anderer. Was er zu welchem Zeitpunkt selbst erlebt hatte, konnte der Junge nicht benennen. Er hat mit Alois geredet. Worüber? Keine Ahnung. Lucius war da gewesen, unten vor dem Eingang der Klinik. Mit Tristan und Melissa. Sie hat ein Messer gehabt, oder?

Wie so oft in letzter Zeit, saß Carla in dem Zimmer, welches er sich bis vor kurzem mit seinem Vater geteilt hatte. Lucius ist vor einigen Tagen entlassen worden, aber er kam trotzdem täglich zurück, um seinen Sohn zu besuchen. Bald würde er kommen, um ihn endlich wieder mit nach Hause zu nehmen.

Merlin begutachtete die Narbe an seinem Bauch, als wolle er sich damit vergewissern, dass sie gut verheilte. Davon hing ab, ob er gehen dürfe oder bleiben müsse. Das Pentagramm des Brandstempels war zu erahnen. Im Großen und Ganzen erinnerte das Gebilde an einen knubbeligen Kreis. Vielleicht könnte er es irgendwann als Sonne bezeichnen, oder als Vollmond. Nur für den Fall, dass ihn jemand darauf ansprechen würde.

»Hier ist eine Karte aus der Schule«, sagte Carla und hielt Merlin einen dunkelblauen Umschlag entgegen. »Wie es aussieht hat da jemand ein schlechtes Gewissen.«

»Woher weißt du, was drin steht?« Merlin richtete sich auf. Inzwischen konnte er sich so bewegen, wie er es einst gewohnt war, ohne von Schwindelgefühlen oder brennenden Schmerzen übermannt zu werden. Er war auf dem besten Weg zur Genesung.

Seine neue Freundin machte eine abwinkende Bewegung. »Ist doch klar, dass sie dir alles Gute wünschen und hoffen, dass du dich erholst. Die Umstände hast du deinen Mitschülern zu verdanken. Mit Sicherheit hoffen sie, dass du gar nicht erst auf die Idee kommst, sie zur Verantwortung zu ziehen.«

»Ich habe eh nicht vor, dort jemals wieder aufzutauchen«, gab Merlin zu und hob den Blick zur Decke. Dort hing ein kleines Poster von Nirvana, welches Lucius ihm von zuhause mitgebracht hatte. »Vielleicht stelle ich Lorraine irgendwann zur Rede, aber ich glaube sie würde sich eh nichts von dem annehmen, was ich zu sagen habe.«

Carla schmunzelte und legte den Umschlag beiseite. »Was hast du vor, wenn der Alltag wieder ansteht? Eine andere Schule?« Sie runzelte die Stirn. »Freddie hat nach den ganzen Vorfällen zu einer ziemlich guten gewechselt. Der Schulleiter setzt sich aktiv gegen Mobbing ein und hat nach Freddies Wechsel eine Aktionswoche gestartet, in der es um verschiedene Identitäten und Geschlechternormen ging.«

»Das klingt cool«, gab Merlin zu, aber er winkte ab. Von Geschlechternormen und Identitäten hatte er genug. Inzwischen wusste er, wer er war und dass er das über sich selbst sagen konnte, war mehr als genug. »Aber ich habe andere Pläne.« Kurz zuckte sein Blick zum Fenster. Er grinste schief, als sich ein Gefühl von Vorfreude in seinem Magen ausbreitete. Wenn die Ärzte es zuließen, dann würde er im Laufe der Woche das Krankenhaus verlassen. Sein Vater würde ihn abholen und sie würden sich vorbereiten ...

»Ach, da hat dein Pa schon von erzählt«, fiel Carla in seine Gedanken. »Ihr plant eine Weltreise, ne?«

Merlin nickte. Das Lächeln auf seinen Lippen wurde breiter. Weltreise und Lucius klang in seinen Ohren immer noch wie ein riesiges Paradoxon. Zu unwahrscheinlich, um wirklich stattzufinden. Aber mit Tristan und Merlin an seiner Seite würde er das sicher hinbekommen. Seit er das erste Mal ausgebrochen ist und das letzte Gespräch mit Alois geführt hatte, verhielt sich sein Vater viel aufgeschlossener und selbstsicherer. Als hätte sich ein Anker von ihm gelöst, der zu unrecht an ihm befestigt worden war.

»Ich hoffe, dass du von unterwegs viele Postkarten schickst«, bemerkte Carla spitz. »Ich möchte aus jedem Land eine!« Abschließend lachte sie und Merlin stimmte in das Lachen mit ein.

Natürlich würde er ihr schreiben. Carla war zu einer guten Freundin geworden. Mehr als das. Sie fühlte sich schon fast wie eine Schwester an. Am liebsten würde er sie mitnehmen, aber sie wollte zuerst ihre Ausbildung beenden. In einige Länder würde sie vielleicht nachreisen, das legte sie fest, während sie sich über die bevorstehenden Jahre unterhielten.

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Schon wenige Wochen nach seiner Entlassung, befanden sich Merlin, Lucius und Tristan in einem Ferienhaus in Schweden. Das rot-weiß angestrichene Holzhaus befand sich direkt an einem See. Die Luft roch süßlich und fühlte sich frisch an, jeder Atemzug schien gesunde Erleichterung in den Körper einzuladen. Im Licht der untergehenden Sonne schimmerte die Wasseroberfläche des Sees in warmen gelb- und orangetönen.

Tristan und Lucius saßen draußen, auf der Terrasse, sie dehnten das gemeinsame Abendessen aus und lachten. Worüber? Das ging Merlin vermutlich nichts an. Er hatte sich irgendwann ins Haus zurückgezogen, um ihnen die Zweisamkeit zu gönnen.

Im Wohnzimmer stand ein altes Klavier, welches wohl eigentlich als Dekoration diente, aber es funktionierte. Mit seinem leicht verstimmten Klang brachte es eine angenehme Vertrautheit hervor, wenn Merlin davor saß und spielte. Seine Finger glitten über die abgegriffenen Tasten und die Melodie flüsterte ihm Erinnerungen ins Ohr, welche ihn darauf besonnen, wie gut er es eigentlich hatte. Jetzt. Endlich in Freiheit und mit der Erkenntnis, die ihm viel zu lange gelähmt hatte:

Er war perfekt, genau so, wie er war, und er musste nichts ändern, um mehr er selbst zu sein.

Merlin war vielleicht keine gängige Note in der Melodie des Lebens, aber auf seine eigene Art erzeugte er einen Klang, der sich passend in jedes Lied einreihen ließ, sofern man dazu bereit war, sich auf Neue Melodien einzulassen.

Ende

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Ich bedanke mich bei allen, die diese Geschichte gelesen haben und auf für jeden Kommentar, jede Anmerkung und die ganzen Stimmabgaben bin ich von Herzen dankbar. :)

Ich hoffe, euch hat die Reise mit Merlin Spaß gemacht. Falls euch die Geschichte gefallen hat, empfehlt sie gerne weiter.

Ich schreibe bereits an weiteren Werken und habe vielleicht auch schon das nächste Buch für Wattpad in den Startlöchern.

Liebe Grüße, Megan

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