Unmelodie

Kapitel 3: Englisch und Musik

(POV Merlin)

Wie angekündigt, saß Lorraine im Englischunterricht neben Merlin. Innerhalb von Sekunden hat sie ihre Stifte in allen Farben des Regenbogens auf einer Hälfte des Tisches ausgebreitet und bemalte damit die Vorderseite ihres Collegeblocks. Ihr Verhalten war raumeinnehmend, ebenso wie ihr Erscheinungsbild. Sie trug mehr Make-Up als die anderen Mädchen und auffallend durchgeplante Anziehsachen. Jedes Kleidungsstück passte farblich zum Rest. Merlin erwischte sich dabei, wie er sie immer wieder von der Seite beäugte.
Während sie ihr Bild malte, las er die verschwommenen Unterschriften, die ihr orangefarbenes Etui genaugenommen verunstalteten. »Lori Mori hdgdl« konnte er entziffern und »Lori I love u«. Unzählige Namen drängten sich zwischen kitschigen Liebesbekundungen auf dem rauen Stoff.

»Good Morning Boys and Girls«, schallte eine engagierte Männerstimme in den Raum, obwohl der Lehrer die Tür noch nicht ganz durchschritten hatte.

»Good Morning Mister Lony«, konterte ein lethargischer Chor.

Merlin enthielt sich der Begrüßung. Englisch beherrschte er nicht. Das hatte sein Vater ihm nie beigebracht.

Lorraine widmete sich konstant irgendwelchen anderen Dingen. Kritzeleien am weißen Rand in ihrem Schulheft. Verzierungen unter dem Datum. Getuschel mit der Person, die vor ihnen saß. Irgendwann lehnte sie sich auf ihre verschränkten Arme und warf Merlin einen fragenden Blick zu. »Würdest du sagen, dass die letzte Stunde heute ausfällt?«

Es waren die ersten Worte, die sie von sich gab, seitdem Merlin die Frage nach seiner Mutter ignoriert hat.
Er kämpfte mit seinem schlechten Gewissen. Irgendetwas hätte er antworten sollen. Die Frage war nicht schlimm gewesen. Aber es gab nichts, was er sagen konnte, wenn es um seine Mutter ging. Er hat sie nie kennengelernt.
Lorraines Gesicht vereinnahmte den Rand seines Blickfeldes, sodass er auf ihre Frage einging. »Ich habe nichts in diesem Zusammenhang gehört.« Woher sollte er wissen, ob die letzte Stunde ausfiel?

»Eigentlich ist es auch nicht so wichtig.« Lorraine räusperte sich, während sie den Reißverschluss ihres Etuis aufzog, um einen violetten Kugelschreiber daraus zu entnehmen. Sie nahm eine aufrechte Sitzposition ein, denn der Lehrer verteilte Arbeitsblätter.

Merlin betrachtete die Aufgabenstellung und zog die Stirn kraus. Die Buchstaben auf dem Blatt verschwammen zu einer unleserlichen Brühe, die der Junge auch nach mehrmaligem Versuchen nicht entziffern konnte. Vereinzelte Worte sagten ihm etwas und so konzentrierte er sich bloß auf diese. Gift bedeutete im Englischen etwas anderes. Aber was? Er seufzte und lehnte sich mit einem angestrengt verzogenen Gesicht zurück.

Lorraine schien seine Überforderung zu bemerken. Sie schob sich näher an ihn heran und warf einen prüfenden Blick auf sein Blatt. Ihr Parfumgeruch legte sich wie ein fruchtiges Balsam in seiner Nase nieder. »Wir können zusammen daran arbeiten.«

Auch wenn Merlin diesen Vorschlag gerne angenommen hätte, haderte etwas in ihm. Die passende Antwort auf ihre Aussage schien ihm nicht bekannt zu sein. Was für eine Reaktion erwartete sie? »Zählt die englische Sprache etwa zu deinen Begabungen?«

Ein kurzes Auflachen beantwortete seine Frage. Dabei wollte sie es offenbar nicht belassen. Sie lehnte sich zurück und hob gestikulierend ihre Hand. »I was raised bilingual.« Die skeptische Mimik in Merlins Gesicht schien sie zu erfreuen, aber sie konnte ihn nicht lange zappeln lassen, also übersetzte sie ihre Worte. »Meine Güte, du verstehst das echt nicht, oder? Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Meine Mum kommt aus England.«

Auch wenn Merlin darauf eine Antwort parat hatte, behielt er diese für sich. Lorraine machte es ihm zwar leicht, mit ihr normal zu reden, aber etwas in ihm hielt die Fähigkeit zur Konversation zurück. Manchmal blockierte das Denken seinen Mund. Dass Lorraine diese seltsamen Schwingungen in seiner Magengegend auslöste, erschwerte die Situation noch mehr. Sie war so unkompliziert. So nett. Er warf ihr einen schüchternen Blick zu und spürte, wie seine Ohren heiß wurden. Sie sah hübsch aus. Sein Magen ziepte. Sie duftete nach Früchten.