(POV Merlin)
Die Fähigkeit zu denken lag verschüttet unter einer Decke aus Selbstzweifeln. Merlins Füße trugen ihn die Straße entlang. Schmerzende Knie und eine entzündete Brandwunde hatten in diesem Moment keine Bedeutung.
Immer dann, wenn er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, hörte er ein niederschmetterndes Rauschen. Durchgehend redeten seine Mitschüler in Gedanken auf ihn ein. Er sah Chesters Gesicht ganz nahe vor seinem und roch abgestandenes Bier.
Um dem zu entkommen, rannte er. Seine geringe Kondition fiel diesmal kaum auf. Ein sonderbarer Adrenalinstoß ließ den Jungen gedankenlos voranschreiten.
Egal wie weit er ging, es schien keine Möglichkeit zu geben, den Ereignissen zu entkommen. Er versuchte, seine Sorgen umzulenken, indem er an seinen Vater dachte. Aber Lucius war nicht sein Vater. Er war nicht mit ihm verwandt. Er hatte keinen Ursprung und niemanden, der ihn auffangen könnte. Scheiße nochmal, er hatte nicht Mal ein Geschlecht. Seine Freundin war eine Verräterin, ebenso wie Tristan und Lucius. Sie haben all die Jahre ein geheimes Labor im Keller betrieben? Und sich getroffen, ohne dass er davon etwas mitbekommen hat? Vielleicht war er niemals als Sohn geplant gewesen, sondern als irgendeine Art Projekt. Merlins Gedankenwelt schien keine plausible Erklärung mehr zulassen zu können.
Wie in einem Rausch zog die Umgebung an seinem Körper vorbei. Er nahm orangefarbene Silhouetten wahr, die über seinem Kopf hinwegzogen, während er eine Allee durchschritt und die herbstlichen Baumkronen über ihm im seichten Wind raschelten. Er konnte es nicht in Gänze begreifen, aber etwas in ihm hatte sich ein Ziel gesetzt. Lorraines Stimme verschwamm in seinen Gedanken. »Man nennt sie nicht umsonst Selbstmordbrücke.« Merlin wischte sich Tränen aus dem Gesicht. Warum weinte er schon wieder?
Er schritt über die graue Flur der Straße. Links und rechts rauschten rote, beigefarbene und weiße, manchmal blaue oder gelbe Fassaden an ihm vorbei, je nachdem welche Farbe die Häuser hatten, die er passierte. Er zog vorbei an Radfahrern, Fußgängern und wurde manchmal von Autofahrern angehupt, die sich darüber aufregten, dass der Junge mitten auf der Straße lief. All das geschah außerhalb seiner Wahrnehmung und somit abseits seiner Kontrolle. Gedanklich war er an einem Ort, der tief in seinem Inneren bestätigte, was sein Umfeld ihm bis zu diesem Augenblick immer wieder einzureden versucht hatte:
Er sollte nicht existieren.
Die einzig logische Konsequenz aus dieser Feststellung lenkte seine Beine immer weiter dem Ziel entgegen. Er ließ die Stadt hinter sich und schritt weiter voran. Unter nicht realen Beschimpfungen seiner Mitschüler, die Merlins Erinnerung noch schmerzlich parat hatte, versiegte irgendwann die Tränenquelle. Vermutlich hätte er noch weiter weinen können, doch er verspürte dieses Verlangen nicht mehr. Er hatte ein ruhiges Gedankenstadium erreicht. Die Akzeptanz erfüllte ihn mit Zufriedenheit. Langsam kehrte seine innere Unruhe sich in Erfüllung um und Merlin konnte gedanklich wieder an der Umwelt teilnehmen. Er sah ein Brückengeländer näher kommen. Mit jedem Schritt fühlte er sich geborgener.
Er ließ Andre gedanklich hinter sich stehen.
Das rote Brückengeländer kam näher.
Danach stellte er Jan gedanklich neben Andre ab, um auch ihn hinter sich zu lassen.
Das Geländer näherte sich weiter.
»Diese Welt ist kein Ort für Leute wie dich.«
Während ihm Chesters Worte bestätigend durch den Kopf gingen, ließ er auch ihn zurück.
Dann schärfte er seine Aufmerksamkeit und ihm wurde bewusst, wo er sich befand. Er stand oben auf der Brücke, die Lorraine ihm am Vorabend gezeigt hatte. Das Geländer war nur noch einen Arm weit von ihm entfernt. Er streckte seine linke Hand dem abblätternden Lack entgegen. Bis er schließlich einen letzten Gedanken seiner einzigen vermeintlichen Freundin schenkte. »So wichtig bist du nicht.«
Die trockene Struktur des Brückengeländers drückte in seiner Handfläche. Während er auf die Mitte der Brücke zuschritt, zog der alte Lack über seine Haut und hinterließ grobe Kratzer. »Lucius ist nicht mein Vater.« Wiederholte er mit leiser Stimme und bestätigte sich selbst ein letztes Mal, dass nur einzig und allein er selbst an seinem Leben hing. Es gab niemanden, dem seine Existenz wirklich wichtig war. Und da er sich selbst nicht mehr leiden konnte, fiel ihm sein Handeln nicht schwer. Warmer Wind wirbelte seine ungleichen Haarsträhnen auf. Er strich gegen seine Haut und strömte von hinten auf den Jungen ein. So als wolle er ihn ermutigen, seinem Plan weiter zu folgen. »Nur zu«, schien er zu sagen, »vorwärts.«
Irgendwann blieb Merlin stehen und wandte sich dem Geländer zu. Dabei legte er auch seine rechte Hand vor sich auf dem rauen Lack ab. Der Wind traf ihn nun von der Seite und wirbelte sein Haar immer wieder in sein Gesicht. Nicht Mal das hatte er zufriedenstellend hinbekommen. Sein Haar war stellenweise immer noch zu lang.
Merlin schaute nicht herab. Sein Blick schweife über grüne Weiten und ein Meer aus blau, grau und hellorange. Die Sonne zog sich zurück und verschwand hinter den Baumkronen, die neben den Bahngleisen noch stehen gelassen worden waren. Befreit von jedem Mitleid und sehnsüchtig nach der Fähigkeit, nichts mehr spüren zu müssen, zog sich Merlin näher an das Geländer heran. Er hob seinen Fuß und kletterte langsam zuerst mit dem linken Bein über das vergessene Brückengeländer. Die Bahngleise waren vor einiger Zeit stillgelegt worden und es war stadtweit bekannt, dass eine Brücke, auf welcher jedermann ungestört alles tun konnte, eigentlich nur Schaden anrichtete. Wieso hatte sie noch niemand abgerissen?
Es fühlte sich wie Schicksal an, dass er noch am Vorabend darüber nachgedacht hatte, wie sich jemand fühlen mochte, der an diesen Punkt seines Lebens angelangt war. Merlin zog sein rechtes Bein nach und hielt sich nur noch mit seinen Händen am Leben fest. Seine Füße balancierten zwischen den Sprossen der Brücke und hätten ihn gnadenlos fallen lassen, wenn seine Hände ihn nicht halten würden. Wie viele Menschen diesen Ort wohl schon aufgesucht hatten? Mit ähnlicher Verwirrung zwischen den Schläfen, wie er? Wenige Sekunden und vielleicht ein kurzer Schmerz trennten Merlin von unendlicher Freiheit. Schmerz, der nicht der Rede wert war, wenn er an die Befreiung des Todes dachte. Der Wind schien stärker zu werden. Das schwarze Haar des Jungen verwehte ihm die Sicht und erleichterte ihm die Entscheidung. Loslassen. Innerlich hatte er dem Impuls bereits nachgegeben.
Fliegen.
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Unmelodie
Novela JuvenilWattys 2022 Winner - Kategorie: Young Adult Ich danke euch allen. Für lesen, empfehlen, abstimmen und kommentieren. Diese Auszeichnung bedeutet mir sehr viel. Danke. :) Update 12.04.2024: Es gibt schon wieder ein neues Cover für diese Geschichte. Di...