Kapitel 18: Sorge

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(POV Lucius)

Es wurde spät. Lucius wechselte schon seit Stunden seinen Standort. Wohnzimmer, Küche, Arbeitszimmer. Ab und zu lief er nach oben, setzte sich kurz auf sein Bett, überschüttete sich mit Selbstvorwürfen und stand wieder auf, um in Merlins Zimmertür zu verharren. Er überflog die Poster, das nicht gemachte Bett, die Hausaufgaben auf dem Schreibtisch und wischte sich mit den Händen über das Gesicht.

War da ein Geräusch?

Sein Kopf zuckte über seine Schulter und er eilte zur Treppe, um nach unten in den Flur zu sehen. Nichts. Keine Spur von Merlin und auch kein Signal von Tristan. Er berührte immer wieder das Smartphone in seiner Tasche. In seiner Brust wallte Übelkeit auf, die ihn im Sekundentakt zu lähmen schien. Kalter Schweiß rann seinen Nacken hinab. Er schritt die Treppe hinab, näherte sich der Haustür und legte seine feuchte Hand auf die Klinke. Zitternd drückte er sie nach unten und zog die Tür auf, bloß einen Spalt. Dann überrollte Panik seine Schultern, wie ein heißer Wasserfall. Er stemmte die Tür zurück in die Zargen. Verzweifelt fluchend wich er zurück, bis er auf eine Wand traf. An dieser rutschte er herunter, zog seine Knie an die Brust und versenkte sein Gesicht hinter den Armen. Die Wörter, die seine Lippen verließen, nutzte er nur selten. Es waren schlimme Begriffe, die er Merlin schon früh verboten hatte. Aber was blieb ihm anderes übrig, als sie gegen sich selbst zu richten? Im Ernstfall war er zu nichts zu gebrauchen. Er lugte eingeschüchtert zur Tür. Wieso konnte er nicht einfach nach draußen gehen? Es war dunkel, ihn würde sowieso niemand sehen.

Um seinen Magenkrämpfen entgegenzuwirken, zog er sein Smartphone hervor und wählte Merlins Nummer. Nichts. Der Anrufbeantworter ging sofort ran. Also wählte er Tristans Nummer, aber von ihm wurde er direkt weggedrückt, als wäre seine Nummer blockiert. Sicher eine Vorsichtsmaßnahme, oder? Er sah den roten Lockenkopf vor sich, wie er mahnend die Augenbrauen zusammenzog und ihm erklärte, dass er keinen Kontakt zu ihm aufnehmen sollte. Logisch, immerhin war er gerade damit beschäftigt, die Fremden von diesem Haus abzulenken. Ob er damit Erfolg hatte?

Lucius stemmte sich seufzend auf die Beine und zog sich in das Arbeitszimmer zurück. Wenn er Tristan nicht erreichen konnte, musste er das andere Problem selbst beheben. Er musste Merlin finden und ihm endlich die Wahrheit über seine Existenz erzählen. Und weil es nicht seine Stärke war, in einem direkten Gespräch über wichtige Dinge zu reden, überlegte er sich einen Plan.

Er öffnete die geheime Tür und betrat das Labor. Dort begab er sich zu einem Schreibtisch, schaltete einen Computer ein und während dieser hochfuhr, widmete er sich einer abgeschlossenen Schublade. Der Schlüssel klemmte hinter dem Computerbildschirm. In der Schublade lagen Büroklammern, Notizzettel, Stifte, ein Radiergummi und ein Medaillon. Lucius sah es eine Weile lang an, bevor er es aufnahm und öffnete. Ein winziges Foto einer schwarzhaarigen Frau kam zum Vorschein. Ein wehmütiges Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. Zita. Sie war ein herzensguter Mensch gewesen. Die Einzige, die nett zu ihm gewesen war, als alle anderen in ihm lediglich ein Versuchsobjekt gesehen haben.

Bis Tristan aufgetaucht ist. Mit ihm hatte sich alles geändert. Sein Leben ist besser geworden. Tristan hat ihm beigebracht, wie ein Mensch zu denken, obwohl er mit dem Wissen großgezogen wurde, keiner zu sein. Er hat ihm die Augen geöffnet.
»Du hast ein Anrecht auf eine eigene Meinung«, hatte er ihm versprochen. »Nur weil sie dich erschaffen haben, dürfen sie deine Menschenrechte nicht unterschlagen. Die Welt muss erfahren, dass du existierst, dann wirst du erkennen, dass sie diejenigen sind, die falsch denken.«

Allein die Erinnerung an diesen Moment brachte sein Inneres zum Sprudeln. Lucius seufzte und knibbelte das Foto vorsichtig aus dem Medaillon. Er legte es mit der Rückseite nach oben auf den Tisch und nahm einen dünnen Stift zur Hand, um eine Zahlenkombination auf das Foto zu schreiben. Sechs Zahlen. Ihr Geburtsdatum. Er klemmte das Bild zurück in das Schmuckstück und strich mit dem Daumen über ihr Gesicht. Sie hatte wirklich Ähnlichkeit mit Merlin. Je älter er wurde, desto mehr ihrer Merkmale kamen zum Vorschein.

Er löste sich von seiner Erinnerung und startete den Computer. In einem Rausch von Zerstörungswut löschte er alle Daten, bis auf einen einzigen Ordner. Diesem fügte er Dokumente hinzu, sowie Fotos. Dann änderte er das Passwort des Computers. Sechs Zahlen. Ihr Geburtsdatum. Er fuhr den Computer herunter, steckte das Medaillon in seine Hosentasche und ging zurück nach oben. Die Türen ließ er offen, beide. Die zu seinem Arbeitszimmer und auch die geheime. Wenn Merlin die Wahrheit erfuhr, dann immerhin die komplette.

Lucius setzte sich im Wohnzimmer auf einen Sessel und starrte nach draußen, um auf seine Rückkehr zu warten. Er war mit Freunden unterwegs. Wenn er nur lange genug ausharrte, würde der Junge jederzeit durch die Tür schreiten. Ganz sicher. Mit jeder verstreichenden Minute wurden seine Augenlider schwerer. Er riss sie immer wieder auf, musste sich aber seiner Müdigkeit geschlagen geben.

UnmelodieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt