Judas befindet sich genau an dem Ort, an dem er seit jeher unwillkommen ist. Vor den berüchtigten Perlmutttoren ist der Boden mit weichen Wolken ausgelegt. Judas versucht vergeblich, den Kloß in seinem Hals zu ignorieren.Vor den Toren des Himmels™ hat sich eine lange Schlange gebildet. Dass Konzepte wie Raum und Zeit hier oben unter etwas anderen Spielregeln agieren, trägt nicht sonderlich viel zur Erträglichkeit der Situation bei, vielmehr lässt sich eine Absicht erkennen, die ohnehin sehr klein geratene Geduldskapazität einer bestimmten Dämonin zu sprengen.
Gereizt tippt Helia mit dem linken Hüflein auf den weichen Boden. Hin und wieder verdreht sie die Augen und verbalisiert ihre Ungeduld mit hörbaren Seufzern. "Wie lange dauert das denn?" mosert sie vor sich hin. "Die soll'n sich bloß nie wieder beschweren, dass sie Probleme mit Unterbevölkerung hätten!"
Es geht tatsächlich nur langsam voran, doch jeder Schritt, der sie dem Eingang näher bringt, lässt das in Judas aufkeimende Senfkorn aus Unsicherheit zu einem Baum der ausgeprägten Panik heranwachsen. Vor dem Himmelstor sitzt ein seltsam leuchtender Mensch an einem Schalter, ähnlich wie in einer beschäftigten Zahnarztpraxis.
"Was kann ich für euch tun?" fragt er mit nicht ernstzunehmend hallender Stimme, als sich die drei Angereisten vor seinem Tresen positioniert haben.
"Wir sind aus demselben Grund da wie sonst auch." erwidert Helia barsch.
"Können Sie sich ausweisen?" fragt der Mann unberührt. Es handelt sich um den Apostel Petrus.
Helia unterdrückt ihre aufkochende Ungeduld und klatscht ihre Papiere auf den Tresen.
Petrus rückt die kleine Brille auf seiner Nase zurecht und blickt mit angestrengt zusammengekniffenen Augen auf die Unterlagen.
"Helianthus, ein Cherub zur Seite des Herren, gefallen als einer der Anhänger Luzifers, der sich gegen Gott und sein Gefolge auflehnte." liest Petrus daraus. Er wirft der Dämonin einen vielsagenden Blick zu. "Was ist Ihr Anliegen?"
"Das weißt du ganz genau, wir sind jedes Jahr hier!" erwidert Helia, die gerade noch groß genug ist, um über den Rand des Schalters spähen zu können. Isopoda tätschelt ihr beruhigend den Rücken. Mit einem um Verzeihung bittenden Lächeln wendet er sich Petrus zu. "Geehrter Apostel, nehmen Sie sich ihren Tonfall nicht zu Herzen. Wir wollten gern den Erzengel Gabriel sprechen."
Petrus blickt kurzzeitig auf ein sich in seiner Nähe befindendes Telefon, dann schaut er wieder zu den Drei vor ihm. "Der Erzengel Gabriel ist nicht anzutreffen." meint er schlicht.
Kurz darauf ertönt ein schräges Geräusch, lange kann es keiner der Anwesenden irgendeinem Ursprung zuordnen. Nur Judas glaubt, es würde ihm bekannt vorkommen, aber er bleibt still und behält den Blick gen Boden gerichtet, er will dem Heiligen nicht in die Augen schauen.
"Für mich ist er immer zu sprechen!" sagt Helia fest. "Wir haben eine Abmachung!"
"Er ist beschäftigt." entgegnet Petrus genauso fest, da ist dasselbe Geräusch wieder zu hören und jetzt weiß Judas ganz genau, was es verursacht. Er hebt erstaunt den Kopf, senkt ihn aber sofort wieder, als ihn Petrus' missbilligender Blick trifft.
"Sind Sie sicher?" hakt Isopoda nach und es ist nicht klar, ob auch er den Ursprung des Geräusches durchschaut hat.
Petrus verzieht leicht den Mund. "Gewiss." sagt er, nach einiger Zeit des Überlegens. Da hört man es diesmal laut und deutlich: Das schräge Krähen eines Gockels.
Petrus tritt energisch gegen etwas hinter dem Schalter. "Halt doch den Schnabel, du mieses Federvieh!" schimpft er verärgert. Da flattert ein prächtiger Gockel von hinter dem Tresen hervor, seine bunten Schwanzfedern schimmern im Licht und er verkrallt sich mit seinen silbernen Zehen in die blanke Tischfläche. "Kikeriki Kikeriki!!" schreit er lauthals und Judas muss sich ein Grinsen verkneifen.
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Keine Ruhe in Frieden [Roman]
General FictionEigentlich hätte sich Emanuel ja denken können, dass ihn keineswegs das Paradies erwartet. Nach seinem plötzlichen Tod sollen auf einmal alle möglichen himmlischen und höllischen Mächte darüber entscheiden dürfen, was mit seiner Seele passiert! Tat...