And I feel fine

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"Was schreibt man da ganze drei bis vier Seiten?" wundert sich Selma verärgert. "Es tut mir Leid, Alfie. Aber dein Bruder ist ein Depp. Lässt dich erst ausfindig machen, von wegen er vermisst dich und was weiß ich, lässt dann ganze zehn Jahre nichts von sich hören und jetzt schreibt der, als wär nix gewesen? Ich mein, was bildet er sich ein?!"

"Der Brief war ned von Thomas." teilt ihr Alfred mit, ohne sie dabei anzuschauen. "Er ist von Hanna. Meiner Cousine."

"Was?" Es ist nicht ganz klar festzustellen, ob diese Information Selma nun noch mehr verärgert oder gar gänzlich verwirrt.

Emanuel überlegt. Er erinnert sich an keine Hanna.

"Und die muss hundert Seiten schreiben, um dir mitzuteilen, dass der Alte den Löffel abgegeben hat? Das wär doch auch anders gegangen, wir sind doch keine kleinen Kinder mehr, die sich ned trauen, einander ins Gesicht zu gucken, meine Herrn!" Selma fährt munter damit fort, sich über die Pichler Familie aufzuregen, sie kommt gerade erst so richtig in Fahrt.
Unterdessen greift Alfred nach dem Kuvert und zieht einen sorgfältig ausgeschnittenen Schnipsel heraus. Wortlos hält er ihn der plappernden Selma hin. Augenblicklich hält sie inne. "Was ist das?"

"Todesanzeige." bringt Alfred nur mit großer Mühe zustande. In wenigen Sekunden wird sich auch erschließen warum. Selma nimmt ihm die Anzeige aus der Hand und liest mit gerunzelter Stirn. Sie liest alles mehrmals durch. Es ist ein relativ kleiner, viereckiger Zettel, so viel Zeit dürfte das doch gar nicht in Anspruch nehmen.

Exakt genau so wie Alfred vorhin, hebt Selma jetzt die Augenbrauen, sie schaut Alfred entsetzt an. Emanuel schaut zwischen den beiden hin und her und platzt fast vor Ungeduld. Qamar scheint es ähnlich zu gehen. Sie hat sich von der Teekanne abgewandt und mustert ihre Freundin gespannt.

"Nein." sagt Selma klar wie ein Herbstmorgen. "Das haben die ned gemacht. Alfred, das ist ned deren Ernst."

Ja was denn?! Emanuel hat übel Lust, seinen Senf dazuzugeben, aber das wäre wohl unangebracht.
Ein angespannter Zorn scheint von Selma Besitz zu ergreifen. Mit zitternden Händen zerknüllt sie langsam das Papier. "Alfred, sag mir, dass das ein mieser Scherz ist."

"Was denn?" rutscht es Emanuel nun doch raus. Selma funkelt ihn an, jedoch nicht aus Missgunst ihm gegenüber, sondern weil sie allgemein schon derart von Zorn erfüllt ist.
"Sein Name steht ned dabei." teilt ihm Selma mit, faltet den Zettel wieder auf und hält ihn Emanuel entgegen, als ob er das von seiner Position aus wirklich lesen könnte. "Schau da. Alle seine Brüder sind aufgelistet, alle Onkel und Tanten und weiß der Kuckuck. Nur unser Alfred steht ned da!"

"Das..das ist doch sicher a Missverständnis." versucht Qamar Licht ins Dunkel zu bringen. Man sieht ihr aber an, dass sie sich das selbst nicht abkauft. Es ist nur das, was sie gern für wahr geglaubt hätte. Dass letztendlich alles nur ein Missverständnis war.
"Nah, das war mit Absicht so." meldet sich Alfred schweren Herzens zu Wort. "Hanna hat sich mit der Mama gestritten deswegen. Die wollte das so. Die wollten das alle so." Alfred schließt die Augen, wie um eine ihn plötzlich überkommende Müdigkeit zu ertragen, dann vergräbt er das Gesicht in den Händen. Emanuel sieht das alles mit an und hat das Gefühl, gerade zum zweiten Mal gestorben zu sein. Das erste Mal hat sich nicht ansatzweise so grausam und schmerzhaft angefühlt.

"Dieses biestige Teufelsweib." knurrt Selma hasserfüllt vor sich hin. "Die eigene Mutter. Das eigene Kind...wie kann man denn...das eigene Kind?" Sie schüttelt den Kopf, scheint an ihre eigene Mutter zu denken und schüttelt wieder den Kopf. "Die ganze Bagage war schon immer so ein übler Haufen. Diese scheinheiligen, falschen, hinterfotzigen Mistkerle. Die sollen mir einmal über den Weg laufen..."
Alfred legt den Kopf auf die verschränkten Arme. Er gibt keinen Ton von sich, aber seine Schultern beben leicht. Selma eilt sofort zu ihm hin, nimmt neben ihm Platz und umarmt ihn so fest sie kann. "Es tut mir so Leid, Alfie. So Leid. Alles wird wieder gut, mein Schatz, ich versprech's dir. Da schaffst du's auch noch durch."

Keine Ruhe in Frieden [Roman]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt