Weiße Mäuse

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"Lass den Blödsinn!" Alfred greift empört eine schwebende Kuckucksuhr aus der Luft auf. Hellblaue Funken knistern um sie herum. Schnell werden sie von Alfred weggefächert. Der Staub verzieht sich mit einem schelmischen Glitzern.

"Mit wem redest du?" fragt Stephanie, die soeben aus dem Hinterzimmer herauskam. Sie hatte sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund geschoben, damit keinem auffällt, dass sie heimlich hinterm Laden raucht. Alfred sieht nicht vor, sie darüber aufzuklären, dass der Geruch von geräucherter Zahncreme auch nicht sonderlich anziehend ist.

"Ich hab nix g'sagt." behauptet Alfred und stellt die Kuckucksuhr weg. Wer kann schon sagen, ob sich das Exemplar tatsächlich um ein Original aus dem Schwarzwald handelt.

"Heut sind viele Asiaten unterwegs. Da kommen bestimmt mal welche vorbei. Bleib am Ball." Mit dem Kinn deutet Stephanie in Richtung des Eingangs. Alfred gibt nur ein nichts sagendes Brummen von sich. Ihm ist es so ziemlich einerlei, wer oder was in welchen Mengen unterwegs ist. Die Leute würden heute dasselbe kaufen wie immer, wenn sie überhaupt was kaufen. Meistens sind das Postkarten oder Briefmarken oder Wechselgeld, manchmal sogar kleinere Souvenirs. Niemand interessieren die wahrhaftigen Schmuckstücke, die das Geschäft zu bieten hat, wie die alte Jukebox, die seit Monaten in einer Ecke des Ladens vor sich hin staubt, die kuriosen Stehlampen oder die hübsch verzierte Drehorgel und am allerwenigsten die alten Stillleben, von denen Alfred ganz fasziniert ist. Die wenigsten haben ein Auge für sowas.

Einzelne Kunden durchwandern den Laden, der einem das Gefühl gibt, in ein enges Puppenstüblein gestellt worden zu sein. Manche lassen sich von Alfred beraten, andere machen sich selbst ein Bild von ihrer Umgebung. Als Alfred so um '91 nach Stephanies Empfehlung hier anfing, gehörte der Laden noch ihrem Großvater, den es zu überzeugen galt. Bei seinem Vorstellungsgespräch hatte sich Alfred weitaus mehr Mühe gegeben, als von ihm erwartet wurde, denn es war neben dem Studium die erste Möglichkeit, jemandem seine Tauglichkeit beweisen zu können, ohne dass familiäre Voreingenommenheit schon lange im Voraus das Wasser trüben. Der Ladenbesitzer hatte dem Vortrag nur minderwertig Beachtung geschenkt und seine Aufmerksamkeit hin und wieder an den Computer auf dem Schreibtisch gerichtet, als würde er dort seriöse Dokumente im Auge behalten, wobei er in Wahrheit in eine Partie Solitaire vertieft war, während sich Alfred vor ihm die Seele aus dem Leib schwatzte.

Er wäre ohnehin eingestellt worden, denn Aushilfe war schwer zu finden. Zudem erfüllt er das aus Sicht des Ladenbesitzers wichtigste Kriterium für einen Mitarbeiter, welches voraussetzt, anpassungsfähig, unauffällig und weitgehend passiv zu sein. Alfred geht in der Menge unter, ist freundlicher zu den Kunden, als sie es eigentlich verdient hätten und scheint den Kopf öfters, aber nicht zu oft, in den Wolken hängen zu haben.

Wenn am Nachmittag lange keine Kunden kommen, setzt sich Alfred mit einer Tasse Tee hinter die Ladentheke und durchstöbert alte Bücher. Auch heute blättert er sich durch vergilbte Seiten mit Bildern von Pflanzen, Tieren und auch Fabelwesen sowie längst vergessene Wissenschaften. Auch für diese Bücher interessiert sich so gut wie niemand. Das veraltete Deutsch und die fremdartige Schrift, die das Lesen erschwert, macht den Wälzer nicht gerade zum Kundenmagnet. Trotzdem stimmt es Alfred recht traurig, solche Maßen an alten Geschichten und Weisheiten in Vergessenheit versinken zu sehen.

"Dir fehlt noch das Monokel." witzelt jemand von irgendwoher. Alfred blickt wie aus dem Tiefschlaf gerissen von dem Buch auf und sieht Emanuel auf einem der höchstgelegen Regale sitzen. Von dem zusätzlichen Gewicht scheint dem alten Holz nicht die geringsten Schwierigkeiten zu bereiten. Emanuel grinst von oben zu Alfred herunter und lässt gemütlich die Stiefel in der Luft baumeln. Der lange Teufelsschweif baumelt freudig mit. "Um was geht's da?"

Keine Ruhe in Frieden [Roman]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt