Das Sterben

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Dem Tod wird nachgesagt, ein gerechter Mann zu sein.

Ein sonderbarer Titel für einen Gesellen, dessen Ruf ihm derart vorauseilt. Dabei soll er lediglich verdeutlichen, dass die Menschen vor dem Ableben nicht einmal ansatzweise so viel gemeinsam haben wie danach. Irgendwann, so heißt es, holt der Tod jeden ein. Diesem Schicksal hat bisher noch keiner entfliehen können.

Der Tod macht jeden gleich. Egal, ob du arm warst oder reich. Ob du dein Lebtag auf der faulen Haut gelegen hast oder dich in den Wahnsinn geschuftet. Jede Leiche fault und vermodert, irgendwann sind wir alle nur noch Staub und Dreck.

Beschäftigt man sich mit den verschiedenen Interpretationen menschlicher Kulturen, kommt man schnell zu dem Fazit, dass der Tod im Auge des Menschen zwei Rollen annehmen kann:

Der Tod ist entweder Henker oder Erlöser.

Angesichts ihrer eingeschränkten Perspektive kann man es den Menschen nicht übel nehmen, von einem solchen Schwarzweiß-Denken Gebrauch zu machen. Immerhin sind diese Deskriptoren alles was ihnen bleibt, um ein Schicksal in Worte zu fassen, welches ihnen allen blüht und wovon sie im Nachhinein keinen Bericht erstatten können.

Der Tod selbst ist nämlich weder gut noch böse. Völlig gegensätzlich zu mancher nihilistischen Meinung ist der Tod keine Lösung für alles menschliche Leiden und auch religiöse Predigen liegen falsch mit ihren Behauptungen, der Tod wäre eine weitere Knolle an der Wurzel des Bösen, die es zu überwinden gilt oder gar ein dreitägiger Schlaf, aus dem man wieder erwachen könne.

Der Tod ist allgegenwärtig, nicht nur am Tag deines Ablebens, sondern auch all die Jahre davor, von Geburt an. Er wandert über den Zeitstrahl deines Lebens, immer direkt hinter dir. Er ist wie die Tauben auf dem Dach, die Zigarettenstummel auf dem Boden, wie der Aufkleber eines Apfels, den man irgendwo an den Küchenschrank geklebt und dann vergessen hat. Er ist wie der unscheinbare Supermarktangestellte, der den lieben langen Tag damit verbringt, Dosenmais in die Regale zu räumen. Er handelt wie der unberührte Kellner, der allein aus Gewohnheit nicht einmal mehr mit der Wimper zuckt, sollte sich erneut ein unzufriedener Kunde zum wiederholten Male über dieselbe Suppe beschweren.

Der Tod wird nur verschmitzt lächeln und sein Gegenüber freundlich darüber aufklären, dass er lediglich als Kettenglied eines großen und bis ins Detail sehr kompliziert aufgebauten Systems herhielt und lediglich seine Arbeit verrichtet. Alles andere liegt außerhalb seiner Verantwortung.

Denn ein Kellner kann nichts für die verkorkste Suppe, dafür ist der Koch zuständig und der Supermarktangestellte kann nichts für den Zustand der Wirtschaft, nichts für Angebot und Nachfrage. Er stellt einfach eine Dose auf die andere.

Georg Kreisler hatte einmal gemeint, der Tod müsse ein Wiener sein, genauso wie die Liebe wahrscheinlich Französin ist. Als Begründung für seine These nennt er die Pünktlichkeit und über diese lobenswerte Eigenschaft verfügt der Tod tatsächlich. Trotz seiner Gemütlichkeit und Vorliebe für beschauliche Spaziergänge hat er nie mit Eile zu kämpfen. Auch nicht heute an einem späten Septemberabend 1995, am Rande einer Landstraße, wenige Kilometer außerhalb von Wien.

"Ich bin ned tot." behauptet der junge Mann vor ihm nun schon zum dritten Mal. Dabei verschränkt er demonstrativ die Arme vor der Brust. "Das muss ein Irrtum sein. Gestorben bin ich keineswegs."

Skeptisch wirft der Tod einen Seitenblick auf das Auto, dem man die Geschwindigkeit, mit der es wenige Minuten zuvor gegen einen Baum gerauscht war, sehr eindeutig vom Gesicht ablesen kann. Zudem runden die zerknautschte Frontschürze, die zerbrochenen Autoscheinwerfer sowie auf das eine Vorderrad, das sich noch ausgelassen um die eigene Achse dreht, das Bild weiter ab.
Der starrer Blick des Gevatters streift das Fahrzeug, dessen einziger Insasse ganz offensichtlich nichts anderes sein konnte als tot. Unter diesen Umständen grenzt es an vorsätzlich gewählten Wahn, etwas anderes behaupten zu wollen.

"Wie soll ich denn bitte überhaupt tot sein?" diskutiert der Mann weiterhin mit ihm herum. "Ich stehe unversehrt auf meinen eigenen zwei Beinen und sprech mit Ihnen. Meines Erachtens kann ein Toter ned sprechen."

Der Tod deutet mit seiner knochigen Hand auf das Auto. "Dein zerfetzter Körper da drin würd mir anderes erzählen."

Der Mann schaut kurzweilig in die gezeigte Richtung und versucht, nicht allzu betroffen zu wirken.

"Ach, die paar Kratzer." winkt er ab. "Ich hab schon ganz anderes durchgemacht. Sehen's her, ich bin kerngesund!" Er führt ein improvisiertes, lächerlich aussehendes Tänzchen auf, das wohl dem Stepptanz nahe kommen soll. "Tadaa!" Er bleibt leicht außer Atem stehen, breitet die Arme aus und grinst den Tod an, als warte er auf Applaus.

Das Auto explodiert im Hintergrund und geht in Flammen auf.

"Tot." sagt der Tod. "Da nützt die Pannenhilfe auch nichts mehr."

Der Mann blickt verzweifelt auf den Brand. "Aber..." stammelt er. "Das kann ned sein. Gerade eben hab ich noch gelebt..."

Der Tod zuckt mit den knochigen Schultern. "So schnell kann das manchmal gehen. Jetzt mach kein Theater und komm mit. Deine Zeit ist um."

Der Mann, er heißt Emanuel, (es ist anstrengend und irreführend immer nur von dem Mann schreiben zu müssen) springt erschrocken vor der erneut ausgestreckten Hand des Todes zurück.

"Halt, Moment! Warten's doch mal kurz. Wir können doch drüber reden!"

Er kramt eilig in einer Tasche seiner Jacke und dann in der anderen.

"Wie wär's mit ein paar Schilling? Etwas Knete, ein paar Kröten, hä? Ich möchte ja nicht andeuten, ich könnte mich freikaufen, aber ein barmherziger Gentleman wie Sie..." Emanuel greift in das Innere seiner Jacke. "Gentlemen wie Sie wissen doch Bescheid, wenn sie einen vertrauenswürdigen, anständigen Bürger vor sich haben, ned wahr? Sie können's sich sicher sehr gut vorstellen, dass ich noch sehr viel vorhatte in meinem...in meinem Leben."

Emanuel hat aufgegeben, seine Jacke nach Geld zu durchsuchen.

"Ich war meinen Lebtag lang ein guter Mensch."

"Das habe ich nicht zu entscheiden." entgegnet der Tod unberührt.

"Das hat gar niemand und allgemein keiner zu entscheiden! Ich weiß es selber!" erwidert Emanuel überzeugt. "Sie können das doch sicher nachvollziehen?"

Der Tod schüttelt den Schädel, der unter einer schwarzen Kapuze steckt.

"Ich weiß von nichts. Von nichts, was davor war und von nichts, was danach ist." Er schwingt seine Sense. "Ich bin nur hier für die Toten."

"Glaub ich Ihnen gerne." sagt Emanuel, der ein paar Schritte zur Seite gegangen war und nun feststellen muss, dass es keine Chance gibt, aus dieser Situation wieder herauszukommen.

"Deine Zeit ist um." sagt der Tod.

"Ich könnte Ihnen auch noch gerne einen Kaugummi anbieten." Emanuel hält einen zerdrückten, unförmigen Streifen aus Alupapier hoch. "Tut mir Leid darum, dass Sie keine Zunge haben, aber Zähne zum Kauen sind ja noch vorhanden."

Er lächelt unsicher und versucht vergeblich, einen Ausdruck der Verhandlungsbereitschaft auf dem starren Gesicht des Todes zu erkennen. "Um die Zunge ist es wohl nicht weiter schade, Pfefferminz ist den Geschmacksknospen auch nicht wertvoll." fährt er fort mit der Hoffnung, seine heiligen vier Buchstaben aus der verzwickten Szene retten zu können und sein Lächeln hängt bereits schief aus den Angeln.

"Deine Zeit ist um." wiederholt der Tod gelassen.

Emanuel schleudert verärgert das Kaugummi auf den Boden. "Deine Zeit ist um, deine Zeit ist um." äfft er nach. "Zefix, dann ist die Zeit halt um."

Der Tod streckt erneut seine kalte, knochige Hand nach ihm aus.

"Nein danke, ich geh schon selbst." lehnt Emanuel ab und geht, seiner Würde zum Schutz, dem Tod voraus. Eine Weile lang gehen sie nebeneinander her, das brennende Auto wird kleiner hinter ihnen.

"Aber wo komm ich denn jetzt hin?" will Emanuel noch wissen, da schwingt der Tod bereits seine im Mondlicht glänzende Sense und dann bleibt keine Zeit mehr für Fragen.

Keine Ruhe in Frieden [Roman]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt